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Radikal

Radikal

Titel: Radikal Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Yassin Musharbash
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anderen sich entweder zu Fuß in Richtung Ortskern auf den Weg machten oder auf dem Parkplatz neben dem Bahnhofsvorplatz ihre VW – Tourans aufschlossen, um in die Neubausiedlung hinter dem alten Ortskern in ihre Einfamilienhäuser zu fahren, zu ihren Familien und Ikea-Katalogen, Mozzarellatomaten und Gartenmöbeln, blieb Niklas stehen, zündete sich einen dünnen Joint an, den er absichtsvoll so gedreht hatte, dass er wie eine Zigarette aussah, und tat so, als studiere er den Fahrplan oder den Ortsplan, die beide nebeneinander in einem Glaskasten aufgehängt waren.
    Fünf Minuten später trat er den Joint aus, kehrte um, betrat erneut den Bahnhof, überquerte die Gleise und bog in eine kleine Ringstraße ein, die Artilleriepark hieß. Niklas wusste, dass der Name kein Zufall war. Denn von hier aus dehnte sich ein quadratkilometergroßes Waldgebiet aus, in dem in der Vergangenheit militärische Spreng- und Schießübungen aller Art abgehalten worden waren. Das Betreten des Geländes erfolgte auf eigene Gefahr, wie ein Schild mahnte. Niklas schwang sich über den niedrigen, halbmorschen Zaun und stapfte los. Grillen zirpten, ein Geräusch, das ihm sofort auffiel, weil er es seit Jahren nicht gehört hatte.
    Auf eigene Gefahr .
    Aber deswegen war er ja hier.
    Nur dass es eben nicht auf eigene Gefahr gewesen war, sondern auf die anderer Menschen. Wochenlang hatte Niklas Weissenthal kaum etwas anderes getan als gekifft. Immer den Pegel gehalten, immer den Kopf in Watte gepackt. Sobald er gemerkt hatte, dass der Dämmerzustand nachließ, war er panisch geworden, bis er in der Schule selbst in den Fünf-Minuten-Pausen gekifft hatte, um nicht nachzudenken. Bloß nicht nachdenken. Nicht darüber jedenfalls.
    Niklas kämpfte sich durch knielanges Gras voran. Allmählich kam der Waldrand näher. Er hatte Bäume eigentlich immer gemocht, dachte er. Er würde sich einen schönen aussuchen, mit breiten Wurzeln, an die er sich lehnen konnte, sobald er weit genug gegangen sein würde.
    Es war noch immer warm, und er bekam Durst, musste aber fast lachen, als er sich fluchen hörte, weil er kein Wasser mitgenommen hatte. Wofür denn?
    Vierzehn Menschen. Es war leichter, jetzt daran zu denken, hier, inmitten dieser grün-dunkelgrünen Wüste, durch die er nun schon seit zwei Stunden stapfte. Er ging jetzt langsamer als zuvor. Es war sogar ein Kind dabei gewesen. Er merkte, wie eine Träne über sein Gesicht lief.
    Bald ist es vorbei, sagte er sich. Bald ist es alles vorbei, die ganze Scheiße, was du getan hast, was du nicht getan hast, alles vorbei, und du musst nie wieder darüber nachdenken oder davor wegrennen. Es wird vorbei sein und vielleicht vergessen. Und ganz vielleicht vergeben.
    Drei Stunden nachdem er losgelaufen war, kam Niklas Weissenthal an eine Lichtung. Er hatte nicht geahnt, dass er zu so einem reinen Gefühl überhaupt noch in der Lage war, aber sie war wunderschön und unberührt, wie verwunschen, wie nur für ihn gemacht. Die Bäume waren alt, mit dicker, furchiger Rinde und gewaltigen Wurzeln.
    Hier. Genau hier.
    Vorsichtig nahm Niklas den Sprengstoff aus der Tasche seines Vaters und verband die Charge mit der Zündschnur, die er mitgenommen hatte. Dann setzte er sich auf den Boden, den Rücken an einen Baum gelehnt. Er legte das Paket mit dem Sprengstoff auf seinen Schoß und holte ein Streichholz heraus. Er hatte die Lunte extra kurz bemessen, er wollte nicht minutenlang zusehen. Es gab keinen Grund zu warten. Er entzündete die Lunte und sah zu, wie das Feuer sich an der Schnur entlangfraß. Er schloss die Augen.
    Jetzt!
    Das Zischeln der brennenden Zündschnur hörte auf.
    Aber nichts geschah.
    Der Sprengstoff war nicht explodiert.
    Niklas öffnete ungläubig die Augen, minutenlang unfähig sich zu rühren. Dann nahm er den Sprengstoff von seinem Schoß und vergrub ihn mit bloßen Händen tief und gründlich in der Walderde. Dann lehnte er sich an den Baum, an dem er hatte sterben wollen, und weinte. Er weinte laut, heulte und schluchzte, der Rotz lief ihm aus der Nase, vermischte sich mit seinen Tränen, verklebte ihm das Gesicht, es war ihm egal. Irgendwann hatte er sich leer geweint und rollte sich zusammen, bettete seinen Kopf auf eine dicke Wurzel und schlief ein.
    ***
    Ansgar Dengelow wäre bei der Verhaftung gerne persönlich dabei gewesen. Aber er hatte Ole Sunderberg vom LKA und dessen Leuten den Vortritt lassen müssen, eine Formsache, ausgerechnet diesem Widerling, doch es ließ sich nun einmal

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