Radikal
jemand einfach nur etwas tun musste, was eben getan werden musste, und dabei nicht vom Hauptdarsteller ablenken sollte. Aber was musste getan werden? Und wer war der Hauptdarsteller? Etwa er selbst? Er sah an sich herunter, als könnte dort eine Antwort verborgen sein, sah aber nur seine Jeans, das T-Shirt, die Turnschuhe.
Er hob seinen Kopf wieder und blickte umher: die Polizeiwagen, deren rotierendes Blaulicht auf die graue Fassade des Nachbarhauses fiel und dort wild zuckende Muster malte. Der Bäckerladen gegenüber, aus dem die Verkäuferin, bei der er morgens manchmal Brötchen kaufte, herausgetreten war und neugierig zusah. Zwei Sonnenscheinbrötchen , bitte! Wie er es hasste, dieses Wort auszusprechen: Sonnenscheinbrötchen . Als würde man gute Laune bekommen, wenn man dieses Wort nur aussprach! Die Verkäuferin sah schnell zur Seite, als er ihr über die Straße hinweg einen Blick zuwarf. Ja, er war die Hauptperson dieser Szene, daran bestand wohl kein Zweifel. Er wusste, dass er nervös sein sollte. Aber aus irgendeinem Grund, den er nicht kannte, war er es nicht. Vielleicht stecktein archaischer Schutzmechanismus dahinter, dachte er, damit ich mir nicht in die Hose pinkele.
Der Polizist ohne Eigenschaften stand jetzt direkt vor ihm. »Samuel Sonntag?«
»Ja.«
»Herr Sonntag, ich nehme Sie fest wegen des Verdachts der Mitgliedschaft in einer terroristischen Vereinigung.«
»Ah ja?«
»Sie können sich zu den erhobenen Vorwürfen äußern oder nicht zur Sache aussagen. Sie können jederzeit, auch vor ihrer Vernehmung, einen von Ihnen zu wählenden Verteidiger befragen.«
»Danke.«
»Möchten Sie jetzt gleich einen Verteidiger anrufen?«
»Nein.«
»Dann darf ich Sie bitten, mir zu folgen.«
»Wo fahren wir denn hin?«
»Justizvollzugsanstalt Moabit.«
Wenige Minuten später, nachdem der Beamte ihn gemeinsam mit drei seiner Kollegen sorgfältig und nur etwas zu ruppig abgetastet und dann gefesselt hatte, wobei er versucht hatte zu erraten, wessen Hände zu wem gehörten, was aber so hoffnungslos war, als wenn er sein Glück bei Hütchenspielern versucht hätte, fand Samson sich im hinteren Teil eines Polizeibullys wieder. Er saß auf einer Art Pritsche, seine Hände waren hinter seinem Rücken gefesselt. Die Handschellen wiederum waren an einer metallenen Öse an der Wand des Fahrzeugs eingehakt. Ihm gegenüber saß der Polizist ohne Eigenschaften und blickte ausdruckslos vor sich hin.
Der schwere Wagen fuhr jaulend an. Samson lehnte seinen Kopf an das Fenster, das durch ein grobmaschiges Metallgitter geschützt war, und sah, dass sie links in die Proskauer Straße einbogen und dann rechts auf die Frankfurter Allee, die um diese Zeit noch unverstopft war, weswegen der Fahrer auf das Einschalten des Blaulichts verzichten konnte. Sie passierten die Kreuzung, an der er vor fast genau 24 Stunden gestanden und auf den Fernsehturm geblickt hatte, auf den sie nun direkt zufuhren.
Es war in diesem Moment, dass Samson Angst bekam. Sie kamschnell, hart und rücksichtslos und traf ihn wie eine Faust. Er fürchtete, keine Luft mehr zu bekommen, und hörte sich selbst leise keuchen. Er wäre gerne aufgewacht. Aber er konnte sich nicht davon überzeugen, dass er schlief. Er wollte etwas sagen, aber wusste nicht was, und als ihm etwas einfiel, stoppte er sich im letzten Moment selbst, weil er hatte sagen wollen, dass er jetzt gehen müsse und leider keine Zeit mehr habe.
Mitgliedschaft in einer terroristischen Vereinigung. Das bedeutete Paragraph 129. Hatte das Foto, das Fadi gemacht hatte, so hohe Wellen geschlagen? Es sah ganz danach aus. Irgendjemand irgendwo hatte jedenfalls durchgegriffen, eine Entscheidung gefällt, die Dinge in Bewegung gebracht. Das Kommando Karl Martell war, während er es infiltriert hatte, offenbar als Terrororganisation eingestuft worden. An Sinn vorbei, wie er mutmaßte. Und er, Samuel Sonntag alias Samson alias Pippin , galt jetzt als Mitglied.
Sinn. Widukind . Plötzlich fiel ihm etwas ein, siedend heiß. Er drückte seinen Rücken so weit es ging an die Wand des Polizeiwagens und schob gleichzeitig seinen Hintern ein Stück auf der Pritsche nach vorn. Mit den Fingern, denen die Handschellen und die Öse ein paar Zentimeter Bewegungsspielraum ließen, tastete er in seiner Gesäßtasche nach dem Diktiergerät und dem Ring. Beides war nicht mehr da. Er tastete weiter, hektisch. Aber es blieb dabei.
Der Polizist ohne Eigenschaften hatte ihm während seiner Verrenkungen
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