Radikal
tanzende Reflexe an die Decke.
»In den Worten des Isidorus Pacensis«, intonierte Aurelius nun laut und im getragenen Singsang eines Priesters.
Die Mitglieder des Kommandos antworteten ihm im Chor: »Und als die Schlacht begann / hob Karl der Hammer seine Axt / und die Männer aus dem Norden / standen wie ein Wall / und fest wie eine Mauer / geformt aus kaltem Eis / Und sie wichen nicht / und ihre Schwerter / senkten sich / ohn Unterlass / in ihrer Feinde Brüste.«
Eine Stunde später fuhr Samson mit dem Fahrrad zurück Richtung Friedrichshain über die Landsberger Allee. Als er in der Schreinerstraße ankam, wo er wohnte, stellte er das Fahrrad ab, schloss es an und ging zu Fuß weiter, ohne darauf zu achten wohin. Er war wie benommen. Er überquerte die Frankfurter Allee und bog in dieSimon-Dach-Straße ein, wo ihm klar wurde, dass es eine Freitagnacht war, denn die Straße war voller Kneipengänger, Touristen und betrunkener Abiturienten auf Klassenfahrt, die ihn anrempelten, oder vielleicht war es auch umgekehrt, er wusste es nicht. Irgendwo hielt er an, trat ein, bestellte einen Whiskey und trank ihn in einem Schluck aus. Er lief immer weiter, die Wühlischstraße hinauf und wieder hinab, und dann rechts, und wieder rechts, noch ein Whiskey, und wieder woandershin, und noch ein Whiskey, er irrte die Grünberger Straße entlang, dann die Warschauer Straße, immer weiter, und schließlich, irgendwann, fand er sich am Frankfurter Tor wieder.
Er musste stundenlang gelaufen sein. Die Sonne ging auf und ihr erster fahler Schein traf die Kuppel des Fernsehturms, auf den er einen ungehinderten Blick hatte. Wie eine Stecknadel, dachte Samson wirr. Eine gigantische silberne Stecknadel, die mein Leben festhält. Nur dass jetzt alles durcheinanderfliegt. Dass nichts mehr an seinem Platz ist. Alles dreht sich. Er war unendlich müde. In seiner Hosentasche tastete er nach dem Ring, den der Baron ihm überreicht hatte. Er war noch da. Genau wie das Diktiergerät.
***
Es war 11 Uhr 03 am Samstagmorgen, als Ansgar Dengelows Handy piepte. Er verfluchte sich dafür, dass er es überhaupt mitgenommen hatte. Dass er es nicht wenigstens auf lautlos gestellt hatte. Er saß neben Leo auf einer viel zu niedrigen Holzbank in einer Turnhalle in Pankow, die nach Bohnerwachs und den abgestandenen, muffigen Reismatten roch, auf denen, fünf Meter vor ihnen, ein Grüngurt gerade einen Orangegurt mit einem geschickt angebrachten Fegewurf aus der Balance warf, was dem Kampfrichter ein Wazaari wert war, noch so ein Wurf, und der Kampf würde zugunsten des Grüngurts beendet sein.
Dengelow hatte früher selbst Judo betrieben. Er betrachtete es als eine Art Liebesbeweis seines Sohnes, dass er ihm nacheiferte. Er hoffte, dass er das richtig las, sicher war er sich nicht. Aber wenigstens hatte Leo sich nach drei Wochen, in denen er nahezu jeden Kontakt abgelehnt hatte, endlich wieder dazu herabgelassen, seinemVater zu erlauben, ihn zu dem Turnier zu begleiten. Leo hatte bereits einen Kampf überzeugend gewonnen, den zweiten im Bodenkampf leider verloren, hatte er aber immer noch Chancen auf den dritten Platz in seiner Gewichtsklasse.
Der nächste Kampf würde seiner sein.
Wenn der Grüngurt nicht durch ein Ippon oder ein zweites Wazaari den Kampf vorzeitig beenden würde, blieben noch 2 Minuten und 20 Sekunden, bis Leo auf die Matte müsste.
Und jetzt, ausgerechnet jetzt, piepte sein Telefon.
Dengelow blickte Leo an und sah, dass dieser das Piepen gehört hatte.
»Hol’s schon raus«, sagte Leo tonlos und stand auf, um sich warm zu machen.
Dengelow fummelte das Handy aus der Hosentasche. Er öffnete die SMS und starrte ungläubig darauf.
»Alles o. k.?«, fragte Leo.
Dengelow wusste, dass es falsch war, aber er reichte seinem Sohn das Handy.
»Ich weiß, wer es war«, las Leo Munirs Nachricht vor.
»Ich muss weg«, sagte Ansgar Dengelow. »Das verstehst du doch, oder?«
In diesem Moment rief der Kampfrichter Leo Dengelow auf die Matte. Sein Gegner war ein Braungurt, der so bullig aussah, dass Ansgar Dengelow sich kaum vorstellen konnte, sein Sohn und er könnten in einer Gewichtsklasse kämpfen.
»Sofort?«
»Ja.«
»Ist es wichtig?«
»Sehr wichtig. Es war noch nie so wichtig.«
Er wollte Leo umarmen, aber der wusste, dass das seinem Sohn peinlich sein würde. Also klopfte er ihm auf die Schulter.
»Hau ab, Papa«, sagte Leo und zwang sich zu einem
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