Radikal
Stufen vor dem Haupteingang hochgelaufen war. Normalerweise war es seine Taktik, sanft und ein wenig maliziös vorzugehen: freundlich, aber bestimmt und sehr ausführlich die einzelnen Vorwürfe aufzählen. Dazu beiläufig dieHöchststrafen erwähnen. Und wenn ein Verdächtiger daraufhin als Erstes nach der Mindeststrafe fragte, woher soll man so etwas auch wissen, dann wusste er, dass er gute Chancen hatte, ein Geständnis zu bewirken.
Doch Terroristen waren anders. Sie misstrauten der Polizei grundsätzlich, ob im konkreten Fall schuldig oder nicht. Sie waren schließlich politisch motiviert, ideologisch gefestigt, sie erwarteten schlechte Behandlung und unfaires Verhalten. Und auch wenn sie schuldig waren, brachen sie in aller Regel nicht ein. Jedenfalls nicht sofort. Höchststrafen interessierten sie überhaupt nicht. Aber vor allem lebten sie in einer anderen Welt, in der sie Helden waren, unverwundbar, und auf der richtigen Seite der Geschichte standen. Es kam darauf an, ihnen erst einmal klarzumachen, dass es diese Fantasiewelt nicht mehr gab. Dass sie eine Verabredung mit der Wirklichkeit hatten. Dass das Leben von Samuel Sonntag, oder wie auch immer er sich genannt haben mochte, im Untergrund vorüber war. Dass seine neue Realität darin bestand, dass er, Ansgar Dengelow, ihn bei den Eiern hatte. Es reichte völlig aus, wenn er das heute hinbekam. Die Puzzlestücke, die die erste Vernehmung ergeben mochte, konnte er später immer noch zusammensetzen.
Es war so gut wie sicher, dass er Samuel Sonntag mehr als nur einmal vernehmen würde. Alles andere wäre eine Überraschung. Vielleicht würde Sonntag auch gar nichts sagen. Es war jedenfalls nicht unwahrscheinlich, dass sie eine Menge Zeit miteinander verbringen würden.
Nachdem er ihn ausgiebig gemustert hatte, setzte Dengelow sich schließlich auf den braunen Behördenstuhl Samuel Sonntag gegenüber.
»Mein Name ist Dengelow«, sagte er.
»Guten Tag.«
Immerhin, er redete mit ihm.
»Herr Sonntag, gegen Sie werden schwere Vorwürfe erhoben, das wissen Sie.«
»Ja.«
»Bitte bestätigen Sie für das Protokoll, dass Sie keinen Verteidigeranrufen möchten und dass Sie keine Einwände dagegen haben, vernommen zu werden, auch wenn wir noch keine Zeit hatten, einen Pflichtverteidiger hinzuzuziehen.«
»Ja, das ist richtig.«
»Herr Sonntag, was glauben Sie, warum Sie hier sitzen?«
»Keine Ahnung.«
Dengelow beugte sich vor, bis nur noch wenige Zentimeter zwischen ihren Gesichtern waren. »Weil es vorbei ist«, sagte er.
»Was meinen Sie?«
»Ihr bisheriges Leben.«
»Ich verstehe nicht, fürchte ich.«
Also gut , dachte Dengelow, holen wir dich in die Realität. »Herr Sonntag, wir haben da ein Foto von Ihnen.«
»Ach ja?«
Zufrieden registrierte Dengelow ein Zucken der Augenwinkel. »Es ist ziemlich aussagekräftig, finde ich.«
»Finden Sie?«
»Hören Sie auf damit. Sie wissen, dass es vorbei ist. Soll ich Sie weiter befragen, oder wollen Sie vielleicht lieber selbst erzählen?«
»Dengelow, richtig?«
»Ja.«
»Herr Dengelow, bevor ich Ihnen irgendetwas sage, möchte ich erst einmal, dass Sie mir erklären, weswegen ich hier bin.«
»Gern.« Ansgar Dengelow nahm einen kalkuliert tiefen und langen Schluck aus dem Wasserglas, das man ihm auf seine Tischhälfte gestellt hatte. Er ist nicht dumm. Er will wissen, was wir wissen. Na gut. Kann er haben. Sehr gerne sogar.
Er lehnte sich wieder zurück und bemühte sich, so gelangweilt wie möglich zu klingen. »Herr Sonntag, Sie werden verdächtigt, Mitglied der terroristischen Vereinigung al-Qaida zu sein. Sie sind ferner verdächtig, im Auftrag al-Qaidas am 7. Juni dieses Jahres in Berlin eine Sprengstoffexplosion herbeigeführt zu haben, in deren Verlauf und an deren Folgen vierzehn Menschen ums Leben gekommen sind.«
In Sonntags Augen spiegelte sich schierer Unglaube. Er schüttelte wild den Kopf.
Das ist es , dachte Dengelow fasziniert: der Moment, in dem ihmklar wird, dass er nicht mehr in seiner Welt ist, sondern in unserer. In der Realität.
Sonntag schlug mit beiden Handflächen gleichzeitig auf den Tisch. »Sind Sie irre? Ich soll den Anschlag begangen haben?«
Dengelow wusste, dass er nun seine größte Stärke ausspielen konnte: Vollkommen ruhig zu bleiben, während sein Gegenüber sich allmählich der Gefahr bewusst wurde, in der er sich befand. »Ja, das glaube ich.«
»Das ist der größte Scheiß, den ich je gehört habe. Und das wissen Sie! Das ist doch lächerlich. Ich
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