Radikal
wie immer im Maßhemd, wie meistens die ersten drei Knöpfe offen. Er wirkte einschüchternd in seiner Körpergröße, noch mehr aber durch den Hunger, den er ausstrahlte, eine Wachheit und Sprungbereitschaft, die sie an ein Raubtier in einer TV – Dokumentation denken ließ.
Am Tischende platziert, in der Rolle der Richterin: das dritte Geschlecht höchstpersönlich. Sie hatte sogar Kaffee kommen lassen, von Starbucks, wie Merle bemerkte. Nichts hätte die Wichtigkeit dieses Treffens mehr betonen können als der Einsatz finanzieller Mittel zur Verköstigung der Anwesenden. Als Gutachter und Beisitzer waren Frederick Rieffen, Lars Kampen und Henk Lauter bestellt, die wie Schuljungen nebeneinandersaßen.
»Und was, wenn doch , Schwälbchen?«, warf Erlinger ein, und sie musste zugeben, dass er einen fast glaubwürdig betroffenen Ton getroffen hatte.
» Schwalb . Ich heiße Schwalb . Ich glaube, Erlinger, Sie haben es noch nicht ein einziges Mal richtig gesagt.«
»Das ist doch jetzt nicht der Punkt. Sondern dass Sie nicht objektiv sind!«
Ach ja. Richtig. Die Verteidigung: Merle Schwalb.
Es war kurz nach zehn Uhr am Vormittag, und zum ersten Mal, seit sie beim Globus arbeitete, war die große Konferenz, die Inquisition, abgesagt worden. Henk Lauter hatte sie abgeholt. Er war ohne anzuklopfen in ihr Büro getreten, und sein Blick hatte ihr sofort klargemacht, dass etwas vorgefallen war. Sie fuhren zusammen im Fahrstuhl in den 22. Stock, und in dürren Worten erzählte Henk ihr, dass Samson unter dem Verdacht festgenommen worden war, den Anschlag in der Siegfried-Passage ausgeübt zu haben. Sie stiegen aus und betraten den kleinen Besprechungsraum am Ende des Flurs, den das dritte Geschlecht, soweit Merle Schwalb wusste, vornehmlich für Kastrationen und Entlassungen nutzte. Ihre Knie zitterten.
Nachdem sie und Henk Lauter Platz genommen hatten, hatte Erlinger die Details vorgetragen. Er sprach leise, langsam und betont sachlich und beendete seinen Vortrag mit der Information, dass Samson in einem ersten Verhör in der JVA Moabit alle Vorwürfe bestritten hatte.
»Was haben die Behörden gegen ihn in der Hand?«, fragte das dritte Geschlecht.
»Das Wichtigste ist, dass er auf seinem Dachboden etwas über hundertfünfzig Gramm von dem Sprengstoff versteckt hatte, der bei dem Anschlag eingesetzt wurde«, antwortete Erlinger.
»Ist das sicher?«
»Ja. Anscheinend lässt sich das schnell feststellen. Er hatte den Stoff in seinem Bücherregal versteckt, hinter einem Koran. Er hatte keinen Mietvertrag über die Nutzung des Dachbodens und dachte wohl, dass niemals jemand dort nachschauen würde.«
»Was noch?«
»Er hat von seinem Rechner aus über Jahre hinweg unter verschiedenen Kampfnamen Terrorpropaganda weiterverbreitet …« Erlinger stockte.
»Gib es noch mehr?«, erkundigte sich das dritte Geschlecht.
»Ja. Sie können belegen, dass er ein enger Freund von Mohammed Atta war. Es gibt offenbar ein Foto aus dem Frühsommer 2000, beide Arm in Arm oder so.«
Das dritte Geschlecht rührte langsam und gründlich in ihrem Kaffeebecher. »Hmm. Aber die Behörden hatten ihn nicht auf dem Schirm, oder?«
»Nein, das ist ja das Besondere«, antwortete Erlinger und richtete seinen Oberkörper auf. »Samuel Sonntag ist vermutlich der erste Tarnkappen-Konvertit überhaupt.«
»Tarnkappen-Konvertit? Was soll das denn sein?«
»Die Experten fürchten das seit Jahren: Jemand konvertiert in einem radikalen Umfeld, aber bekommt den Auftrag, es niemandem zu sagen. Weil er für eine spätere Verwendung aufgebaut wird. Wie die Perspektiv-Agenten im Kalten Krieg. Die Königsklasse. Er erzählt niemandem davon, er geht nicht in die Moschee, er trinkt weiter Alkohol, isst Schweinefleisch, er hat Freundinnen …«
Jetzt, zum ersten Mal überhaupt, lenkte der Chef der Drei Fragezeichen seinen Blick in die Richtung von Merle Schwalb. Unwillkürlich folgten die mausgrauen Augen des dritten Geschlechts.
»Frau Schwalb, wenn Erlinger mich richtig gebrieft hat, kennen Sie Samuel Sonntag gut, weil Sie eine Zeit lang mit ihm liiert waren, richtig?«, fragte die Herausgeberin.
»Ja, das ist richtig«, antwortete Merle Schwalb.
»Wussten Sie, dass er Muslim ist?«
Merle Schwalb hatte Mühe zuzuhören. Mühe, die Worte zu verstehen, die an sie gerichtet wurden. Sie drangen wie aus großer Ferne an ihr Ohr, erreichten sie verzerrt und gedämpft, als würde sie inmitten eines dichten Nebels stehen. Was ging hier vor sich? Wohin
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