Radikal
oder vielleicht auch bloß, weil der Richter eitel war.
Merle war die siebte in der Schlange. Ganz vorne stand ein öffentlich-rechtliches Fernsehteam, das aus drei Personen bestand. Dahinter folgten zwei ausländische Reporter, es war ein wichtiger Prozess, der größte Terrorprozess seit Jahren in Deutschland, und die Welt sah zu, denn um ein Haar wären Dinge explodiert, Menschen gestorben, Recht musste gesprochen werden, und die Angeklagten waren sehr telegen.
Vor ihr in der Schlange stand ein drahtiger, junger Mann mit einem breiten Kreuz, der als Einziger nicht über das Warten fluchte oder hastig Zigaretten inhalierte oder aus Langeweile redundante Telefonate mit seiner Redaktion führte, sondern in aller Ruhe einen Stapel arabische Tageszeitungen durcharbeitete und sich offensichtlich selbst genug war. Er hatte auch eine warme Jacke dabei. Sie beobachtete ihn, während sie selbst von einem Bein auf das andere trat, um die Kälte zu vertreiben. Sie fand ihn auf eine interessante Weise gut aussehend und sehr souverän.
Als die fast einhundert wartenden Journalisten und Beobachter schließlich mit zwei Stunden Verspätung in den großen Verhandlungssaal gelassen wurden, in dem es um einen vom Irak aus gesteuerten Plan ging, in Deutschland einen Anschlag auszuführen, da hatte sie sich auf einem Stuhl neben dem drahtigen Mann wiedergefunden. War es Zufall? Hatte sie nachgeholfen? Er hatte nie gefragt, auch später nicht. Sie lächelte ihn an, als sie ihren Block aufschlug. Er lächelte zurück, ein bisschen schüchtern, ein überraschender Kontrast zu der zuvor diagnostizierten Souveränität, aber gerade das hatte ihr gefallen, und zudem wusste sie, dass sie auf viele Männer einschüchternd wirkte, vermutlich wegen ihrer Körpergröße.
Als der Verhandlungstag nach neun Stunden vorüber war, hatten sie sich ein Taxi zurück in die Innenstadt geteilt. Sie hatte vorgeschlagen, noch ein Bier zu trinken, und er hatte zugestimmt. Sie fanden eine Kneipe in der Altstadt, in der es nur Altbier gab, aber man dafür nicht brüllen musste. Er war kein Journalist. Er sagte ihr, er recherchiere für ein Buch. Sie glaubte ihm kein Wort, sagte das aber nicht, sondern fand es erregend, dass er ihr die Wahrheit nicht sagen konnte. Oder es nicht wollte. Oder noch besser: nicht durfte.
Sie wohnten im selben Hotel. Im Fahrstuhl behauptete er, auf demselben Flur sein Zimmer zu haben wie sie, obwohl sie, als sie nebeneinander an der Rezeption gestanden hatten, hatte sehen können, dass das nicht stimmte. Sie meinte zu spüren, dass er wusste, dass sie das wusste, und deshalb war sie sicher, dass sie nicht noch mehr Zeichen brauchte, und küsste ihn schon im Fahrstuhl.
Sie verbrachten die Nacht miteinander und den nächsten Tag wieder nebeneinander im Gerichtssaal, beide ihre Blöcke auf dem Schoß, wobei sie feststellte, dass er ganz andere Dinge notierte als sie, und dann eine weitere Nacht im Hotel, und dann war sie vollständig verliebt nach Berlin zurückgeflogen, während er mit dem Zug fuhr, aber ebenfalls nach Berlin. Sie wohnten noch nicht einmal weit voneinander entfernt, er im Friedrichshain, sie im Prenzlauer Berg, es war perfekt. Rätselhaft, aufregend, schnell. Tief. Oder so tief, wie er es eben zuließ, was für sie aber auf dasselbe hinauslief, denn immer, wenn es nicht weiterging und er aus dem Fenster starrte und ihre Fragen nicht beantwortete, als habe er sie nicht gehört, dann war das doch auch nur ein Anzeichen für Tiefe, eine Tiefe, diesie eben noch nicht durchschaute, in die er sie noch nicht einweihen wollte oder durfte, aber sicher würde sich das noch ändern.
So hatte es angefangen, und es war schön gewesen, oder jedenfalls aufregend, für eine ganze Weile. Natürlich war sie irgendwann darauf gekommen, dass Tiefe und Sprachlosigkeit einander zum Verwechseln ähnlich sein konnten. Dass es merkwürdig war, wenn jemand auch in trautester Zweisamkeit einsam war, und dass er selten lachte und noch seltener entspannt war oder einfach nur er selbst, aber sie hatte ihn geliebt, und sie glaubte, auch heute noch, dass er sie ebenfalls geliebt hatte.
Tiefe.
Natürlich war Samson immer ein Rätsel geblieben.
Aber wie tief konnte ein Rätsel sein?
Und jetzt saß sie wieder in einem Gerichtssaal, oder jedenfalls kam es ihr so vor. Nur dass Samson dieses Mal nicht dabei war. Obwohl er es war, um den es ging.
In der Rolle des Anklägers, alle anderen am Tisch um einen halben Kopf überragend: Arno Erlinger,
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