Radikal
war doch selbst ein Opfer, ich war im 2 TV – Studio an dem Tag!« Samuel Sonntag zeigte auf seinen rechten Unterarm.
»Ja, wissen wir, Herr Sonntag. Weil Sie oder Ihre Auftraggeber es ursprünglich als Selbstmordanschlag geplant hatten, nicht wahr? Darum waren Sie da. Aber dann haben Sie es sich anscheinend anders überlegt. Vielleicht wollten Sie noch ein bisschen leben und haben gehofft, wenn Sie das Päckchen in den Rollator legen, kämen Sie mit ein bisschen Glück heil aus dem Studio raus. Vielleicht haben Sie sich ja auch überlegt, dass Sie lebendig wertvoller für al-Qaida sind, weil Sie dann einen weiteren Anschlag planen könnten. Vielleicht kriegen wir das ja noch heraus.«
»Sie sind irre! Wieso sollte ich das denn tun!«
»Nun, das Foto belegt ja recht eindeutig, dass Sie schon eine ganze Weile in entsprechenden Kreisen verkehren.«
»Was für ein Foto? Was für Kreise? Wovon reden Sie?«
»Schon interessant, wenn jemand knapp anderthalb Jahre vor dem 11. September 2001 zusammen mit Mohammed Atta Arm in Arm für ein Foto posiert.«
Dengelow musterte Samuel Sonntag genau. Die dichten Brauen hatten sich zusammengezogen. Zwischen Sonntags Augen war nun eine tiefe Falte. Sein Mund stand halb offen. Dengelow fühlte Genugtuung. Sonntag musste glauben, dass sie ihn schon seit Jahren im Visier hatten, und dass er nichts davon bemerkt hatte. Woher hätte Sonntag auch wissen sollen, dass Munir ihm das Bild erst einen Tag zuvor geschickt hatte, zusammen mit dem Namen?
»Ich habe immer noch keine Ahnung, wovon Sie reden«, sagte Sonntag gepresst.
Jetzt nicht lockerlassen, ermahnte sich Dengelow. Immer weitergehen. Schritt für Schritt. Bis er kapiert, was Sache ist. »Na gut, dann sprechen wir eben erst über ein paar andere Dinge, für die wir uns interessieren. Und die etwas mehr Probleme aufwerfen als dieses Bild.«
»Ja?«
»Herr Sonntag, ich bin mir noch nicht sicher, ob die Staatsanwälte es am Ende als Werbung für eine terroristische Vereinigung einstufen oder als Werbung für einen fremden Wehrdienst, aber das wird auf jeden Fall ein Problem!«
»Was meinen Sie, verdammt ?«
»Terrorpropaganda, Herr Sonntag, und zwar im großen Stil. Im ganz großen. Die Kollegen machen gerade Überstunden Ihretwegen. Sehr beeindruckend. Wir sind noch lange nicht durch, aber auf den ersten Blick, so höre ich jedenfalls, haben Sie mehr al-Qaida-Videos heruntergeladen und weiterverschickt, als das Bundesamt für Verfassungsschutz in seinem Archiv hat.«
»Was für Videos?«
»Na, die auf den Rechnern auf Ihrem Dachboden, Herr Sonntag.«
»Ich hab keinen Dachboden.«
»Ich denke doch. Aber das klären wir später.«
»Später? Sie lassen mich jetzt bitte augenblicklich gehen. Das ist doch eine Farce! Sie haben doch überhaupt nichts gegen mich in der Hand.«
»Das wird leider nicht gehen. Da wäre nämlich noch etwas.«
»Was?«
»Herr Sonntag, könnten Sie uns eventuell erklären, wieso Sie 159 Gramm TATP auf Ihrem Dachboden gehortet haben? Und, ach ja: Ihr Sprengstoff stammt aus derselben Charge wie der vom Anschlag auf Lutfi Latif!«
***
Sie hatte Samson in Düsseldorf kennengelernt, um Viertel nach sieben an einem bleigrauen Septembermorgen vor fünf Jahren. Es war kalt gewesen, sie hatte sich darauf verlassen, dass das Spätsommerwetter der Vortage noch anhalten würde, und nicht einmal eine Jacke mitgebracht. Warum auch, hatte sie gedacht, ich werde den Großteil des Tages in einem geheizten Saal verbringen, was auch stimmte. Aber sie hatte nicht daran gedacht, dass der Prozess verspätet beginnen könnte, weswegen sie dann doch gefroren hatte an jenem Septembermorgen vor fünf Jahren vor der Sicherheitsschleuse des Hochsicherheitstraktes des Oberlandesgerichts Düsseldorf, einem bunkerartigen Gebäude mitten auf einer Wiese am Stadtrand dieser durch und durch lächerlichen Stadt, absichtlich abweisend gestaltet, eine Trutzburg kalter Rechtsprechung, ein grauer und in Beton gegossener Schmollwinkel der Republik, mehr als nur eine bloße Erinnerung an Stammheim, eher ein kleiner Bruder, erschaffen im Angesicht des dschihadistischen Terrorismus, was den einen wie ein Déjà-vu und den anderen wie ein Menetekel vorkommen mochte. Aber Merles Problem an jenem Septembermorgen war, dass sie fror und die Pforte sich einfach nicht öffnete, weil drinnen irgendein Anwalt noch einen Schriftsatz abfassen musste oder ein Angeklagter noch ein Gebet zu verrichten hatte oder weil zu viele Besucher da waren
Weitere Kostenlose Bücher