Radio Heimat
verschlang vor dem Sportunterricht fünf Mars und wunderte mich, dass ich nicht über die Hürden kam.
Später warteten dann die großen Enttäuschungen: Strahlerküsse schmeckten nicht besser als die von Colgate, und trotz Blendamed konnte es immer noch zu Blutspuren am Apfel kommen. Schlehenfeuer machte genauso besoffen wie hundsgemeiner Doppelkorn, und auch Kosakenkaffee ließ einen kein Leben voller Abenteuer auf dem Rücken feuriger Rappen führen, während im Hintergrund hektische Musik lief. Und von wegen: Mit Tosca kommt die Zärtlichkeit! Höllisch gebrannt hat das!
Der sechzehnjährige Sohn meiner fünfundvierzigjährigen Bekannten sah mich mittlerweile an, als würde er mich am liebsten im Rollstuhl in ein stilles Zimmer schieben, damit ich stundenlang aus dem Fenster starren konnte. Ich gebe zu, ich kam mir ein bisschen vor wie Oppa, der vom Krieg erzählte. Ich nahm mir noch eine Frikadelle und sagte, mit einem Wort wie »Testbild« müsse ich ihm gar nicht mehr kommen, aber als ich mich wieder umdrehte, hatte der Bengel mich einfach stehen lassen. Eine fremde Frau ungefähr in meinem Alter starrte mich an, weil sie dachte, ich rede mit mir selbst.
»Sie werden es nicht glauben«, sagte ich, »aber wenn man früher lange genug wartete, dann gab es sogar Schnee im Fernseher!«
Über ihr Gesicht glitt ein Lächeln, das ebenso von innigem Verstehen kündete wie von tiefem Mitleid.
Dat gibbet nur bei uns!
Fußball ist bei uns im Ruhrgebiet nicht nur unsere liebste Wochenendbeschäftigung, sondern vor allem das Feld, auf dem wir unsere Rivalitäten ausleben. Als Außenstehender kann man sich das nicht vorstellen, was das heißt und zu welchen Konflikten das führen kann. Da gönnen die Blau-Weißen den Schwarz-Gelben nicht den Kohlenstaub in der Arschritze, und zwischen dem einen Blau-Weiß und dem anderen Blau-Weiß ist es auch nicht besser. Bisweilen geht der Riss mitten durch die Familie.
Von einem besonders schlimmen Schicksal mussten wir erst kürzlich bei uns in Block B hören. Das erste Heimspiel der neuen Saison dient ja immer dazu, sich gegenseitig auf den neuesten Stand zu bringen, was die eigene Entwicklung in den letzten Monaten angeht. Zwischendurch geht immer einer Bier holen und zeigt sich gerade zu Beginn der Spielzeit besonders spendabel, wegen der Euphorie und des schönen Wetters und um einen guten Eindruck zu machen. Einen neuen Rekord stellte indes ein Sportkamerad auf, der intern »der Cherusker« genannt wird. Mit nicht weniger als zwölf Getränken auf den Händen kam er plötzlich vom Bierstand zurück, sieben in der linken, fünf in der rechten Hand, immer ordentlich die Bechergriffe ineinandergestellt. Fröhlich lachend verteilte der Superkellner das kostbare Nass unter den Dürstenden.
»Schönen Dank auch«, sprachen wir, »aber was ist los?«
»Jungs, ich bin im Juli Vatta geworden!«
Selbstredend hatte der Cherusker den Zeitpunkt der Empfängnis so abgepasst, dass die Niederkunft zwischen die Spielzeiten fallen musste. Da galt es dann nur noch Trainingslager und Testspiele im Auge zu behalten, aber ein Restrisiko bleibt eben immer.
»Saubere Arbeit«, hieß es, und: »Planung is eben allet im Leben!«
Doch das Lachen blieb uns allen im Halse stecken, als wir erfuhren, welch schlimmes Schicksal den Cherusker, vor allem aber seinen Nachwuchs ereilt hatte. Sein Humor war nur noch eine maskenhafte Fröhlichkeit im Angesicht des Grauens, und mittlerweile fragen wir uns alle, wie man unter diesen Bedingungen überhaupt leben kann. Aber der Reihe nach.
Zunächst lief alles prima. Während der Schwangerschaft wurde der Cherusker, ein ebenso leidenschaftlicher wie kenntnisreicher Biertrinker und eben deshalb kompromissloser Anhänger der örtlichen Marke, von seiner Frau gefragt, ob er etwas dagegen hätte, den gemeinsamen Sohn nach dem Gründer ebendieser Brauerei zu nennen. Fairerweise sei gesagt, dass ihr diese Parallele nicht klar war. Die Tür, die sie einrannte, war allerdings weit geöffnet. »Ein Sohn, der heißt wie dein Bier!«, hieß es bei uns im Block nicht ohne Neid. »Datt kann man sich merken!«
Nun kam der Bengel an einem Sommermorgen um 8:30 Uhr auf die Welt. Gegen elf Uhr am gleichen Tage wurde der Bruder des Cheruskers auf der Geschäftsstelle des VfL vorstellig, um das Kind ordnungsgemäß anzumelden. Kurz darauf der Schock: Er war zu spät gekommen. Schon eine Stunde zuvor hatte die Schwiegermutter (!) das Kind bei Schalke 04 angemeldet! Noch nicht
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