Radioactive (Die Vergessenen) (German Edition)
überhaupt irgendjemand mitbekommen, dass ich verschwunden war? Niemand interessiert sich dafür, wo ich war. Nicht einmal ein neugieriger Blick. Wie können sie alle nur so ignorant sein? Ihnen kann doch unmöglich alles gleichgültig sein. Sie sind Menschen, genau wie ich. Menschen fühlen. Das kann doch auch hier nicht anders sein. Ich würde am liebsten alle laut anschreien. Sie wachrütteln, doch ich beherrsche mich. Mit geballten Fäusten stehe ich auf. „Ich habe eine Frage.“
Irritiert hebt D375 den Blick. Er ist es nicht gewohnt, Fragen gestellt zu bekommen. „Eine Frage?“ Es hört sich an, als wüsste er nicht einmal, was das ist.
„ Wo ist D523?“
Verwirrt legt er die Stirn in Falten. Ich kann ihm ansehen, wie sein Gehirn versucht, meine Frage zu analysieren. Er wirkt völlig aus dem Konzept geworfen. „Warum interessiert dich das?“
Ich registriere, wie sich nun auch weitere Köpfe von den Bildschirmen losreißen und mich scheu mustern. Sie haben mir ihre Aufmerksamkeit zugewendet. Vielleicht halten sie mich allesamt für wahnsinnig, aber eine bessere Chance als diese werde ich so bald nicht bekommen. Das ist meine Möglichkeit, die Menschen zu erreichen.
„ D523 ist ein Mitglied unserer Einheit. Sie gehört zu uns. Ich sorge mich um sie, wenn sie nicht mehr da ist.“
Der Abteilungsleiter schüttelt nur verständnislos den Kopf. „Wir sind alle gleich. Jeder ist ersetzbar. D523 bildet da keine Ausnahme.“
‚ Gleich zu sein’ ist doch nicht automatisch gleichbedeutend mit ‚ersetzbar’ zu sein. Es fällt mir schwer, mich unter Kontrolle zu halten.
„ Hat sich niemand von euch gefragt, was mit ihr geschehen ist?“, rufe ich laut in den Raum und ernte nur verständnislose Blicke. Wollen sie mich nicht verstehen?
„ Hat überhaupt jemand von euch gemerkt, dass sie weg ist?“
Verzweiflung liegt nun in meiner Stimme und ich spüre, dass ich erneut den Tränen nahe bin. Meine Hände zittern bei dem Versuch, die Tränen krampfhaft zurückzudrängen.
„ D518, es ist nicht deine Aufgabe, Entscheidungen der Legionsführer zu hinterfragen. Setz dich auf deinen Platz und nimm deine Arbeit wieder auf oder ich werde die Wachen verständigen.“
Die Drohung sitzt. Ich lasse mich frustriert auf meinen Stuhl zurücksinken. Was soll ich nur ohne Zoe tun? Wie soll ich in der Sicherheitszone überleben, wenn es nicht einmal einen Menschen gibt, mit dem ich ein normales Wort wechseln könnte?
Der Bildschirm vor mir beginnt zu blinken. Auf acht kleinen Fenstern sehe ich Menschen, die auf ihre Nahrungsration warten. Der Computer verlangt von mir eine Bestätigung für die vorgegebenen Mengenangaben an Tabletten. Doch ich schaue mir die Bewohner der Sicherheitszone genauer an. Einer von ihnen stammt aus der zweiten Generation und ist somit einer der Ältesten in der Sicherheitszone. In drei Jahren, im Alter von genau sechzig Jahren, wird sein Leben enden. Es ist eine Methode, um die Bevölkerungsdichte der Sicherheitszone zu steuern. Früher war es für mich normal, doch heute weiß ich, dass Menschen viel älter werden können. Gustav und Marie waren beide über sechzig und sehr glücklich. Es gibt keinen Grund, warum sie früher hätten sterben sollen.
Der Mann steht wie versteinert vor der Essensausgabe. Er wundert sich nicht einmal darüber, warum die Zuteilung seiner Nahrung so lange dauert. Genauso auch alle anderen sieben. Keiner von ihnen macht Anstalten, den Sensor zur Nahrungsanforderung noch einmal zu betätigen oder ungeduldig in die Öffnung zu schauen. Keiner von ihnen tippt mit dem Fuß oder trommelt mit den Fingern gegen die Wand. Sie wirken allesamt leblos. Ihre Blicke sind starr und ihre Körper bewegungslos. Niemand von ihnen ist wie Iris, die sich so sehr über die pinken Vitamintabletten gefreut hat. Keiner von ihnen ist dazu in der Lage, Freude oder Leid zu empfinden. Auch wenn ihre Körper funktionieren, muss ihr Innerstes vor langer Zeit gestorben sein. Sie sind nur noch leblose Hüllen ohne Seelen. Waren sie schon immer so? Früher habe ich die Menschen nie so gesehen. Ich sah das Besondere in jedem Einzelnen. Ich achtete auf die Kleinigkeiten, die kaum einer sonst wahrnahm. Wollte ich vielleicht einfach mehr in ihnen sehen, als dort war? Oder habe ich bei den Rebellen verlernt, hinter die Fassaden der Menschen zu blicken? Bin ich blind geworden für die Details?
Ohne hinzusehen, bestätige ich alles, was der Computer mir vorgibt. Das System macht keine Fehler und es
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