Radioactive -Die Verstossenen
starken Willen von Finn. Für sie war der Gang zu der Mauer ein großes Abenteuer. Vielleicht war es zu groß für sie…
Gustav geht unruhig vor den Zelten auf und ab. Immer wieder schüttelt er den Kopf, so als könne er nicht fassen, was wir ihm berichtet haben. „So war das nicht geplant“, stößt er immer wieder ungläubig hervor. Ich weiß nicht, was er damit meint. Aber es ist offensichtlich, dass er viel mehr weiß, als er bisher bereit war zuzugeben.
In dem Moment trifft Raymond im Lager ein. In seinen Armen trägt er eine bewusstlose Frau, deren Anblick sofort alle verstummen lässt. Sie muss eine derjenigen gewesen sein, die besonders nah an der Explosion waren. Ihre komplette rechte Gesichtshälfte ist verbrannt und an Stelle ihres Arms klafft nur noch ein großes Loch an ihrer Schulter. Ich weiß nicht, ob Menschen in der Lage sind , solche Verletzungen zu überleben. Auf der alten Erde gab es Fälle, die es geschafft haben, aber auch nur mit hochentwickelter medizinischer Hilfe , und über so etwas verfügen die Rebellen nicht. Außer ein paar Pflaster, Mullbinden und Salben haben die Rebellen nichts zu bieten. Bei so einer Wunde bräuchte sie jedoch wenigstens Schmerzmittel oder Antibiotika, damit sich die Wunde nicht entzündet. Die Ärzte in der Sicherheitszone könnten sie bestimmt retten, aber sie würden es nicht tun. Denn eine Frau ohne rechten Arm würde nicht in das Gleichheitsprinzip der Legion passen. Sie wäre eine Abnormalität und so etwas existiert in unserer Welt nicht.
Ein vereinzelter Schrei durchbricht die belastende Stille. Er kommt aus der Ebene und ist so leidvoll, dass wir alle in Panik versetzt die Köpfe heben. Der Kummer ist fast greifbar. Es könnte der Freund oder Verwandte eines jeden von uns sein und so setzen wir uns alle in Bewegung, während die Sonne langsam den Horizont erklimmt.
Zwei Personen sind zu erkennen. Eine von ihnen kniet und hält die andere in den Armen, schüttelt den erschlafften Körper , wie um ihn dadurch zum Leben zu erwecken.
Ich erkenne trotz des Staubs das leuchtende Blau und Grün ihrer T-Shirts und beginne zu rennen. Neben ihnen stürze ich zu Boden und will meinen Augen nicht glauben. Ich möchte sie verschließen und einfach auf die Rückspultaste drücken , wie bei einem Film.
Es ist Jep. Seine Augen starren in den violetten, von Rauchschwaden durchzogenen Himmel. Aus ihnen ist jegliches Leben gewichen, während sein Körper noch warm ist. Im Gegensatz zu Pep, der mit Blut überströmt ist, wirkt Jep fast unversehrt. Er hat weder Kratzer noch sonstige Wunden.
Finn packt Jep an beiden Schultern und zwingt ihn so , aufzusehen. „Was ist passiert?“
Tränen laufen über Peps Gesicht und waschen Dreck und Blut davon. „Sie haben ihn erschossen.“ Er kann kaum reden vor Schluchzen und Zittern. „In den Rücken.“
Er blickt auf das Gesicht seines Bruders, das dem seinen so ähnlich ist. „Sie haben nicht mal gezögert.“
Wir müssen nicht fragen, wen er mit ‚Sie’ meint. Das ist uns allen klar. Kaum jemand, vielleicht sogar niemand, hatte mein Glück , verschont zu werden.
„Wir wurden verraten!“, schreit Sharon aufgebracht in die Runde, während sie unruhig um das Lagerfeuer tigert. Von anfangs neunzehn Rebellen sind sechs gestorben und drei so schwer verletzt, dass nicht gewiss ist, ob sie überleben werden.
„Es ist unmöglich, dass die Kämpfer der Legion so schnell bei uns waren, wenn sie nicht vorgewarnt wurden. Einer von unseren Leuten ist ein verdammter Spitzel!“
Bei dem letzten Wort steuert sie drohend auf mich zu. Ich kann den Hass in ihren Augen lodern sehen. Es wundert mich nicht, dass sie mich verdächtigt. Viel erstaunlicher ist eher, dass sie erst jetzt damit anfängt.
Ich will ihr entgegnen, dass ich keine Möglichkeit hatte in irgendeiner Weise mit der Legion Kontakt aufzunehmen, doch Finn kommt mir zuvor.
„Cleo hat damit nichts zu tun! Du verdächtigst die Falsche. Wir sollten lieber in unseren eigenen Reihen nach dem Verräter Ausschau halten.“
Mir entgeht nicht sein kurzer Seitenblick zu Gustav, der ungewöhnlich still ist. Sonst ist er immer einer der führenden Redner in Diskussionen, doch jetzt sitzt er wie erstarrt und mit bleichem Gesicht da, ohne auch nur eine Regung zu zeigen.
Auch wenn Sharon nicht überzeugt scheint, beschuldigt sie mich wenigstens nicht mehr.
„Wir haben in jeder Legion vier bis zehn unserer Leute sitzen. Wie kann es sein, dass sie uns nicht vor dem Angriff
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