Radioactive -Die Verstossenen
der Legion gewarnt haben?“, schließt sich nun Raymond an. Mir gefällt, dass er es schafft , in so einer Situation sachlich zu bleiben. Anders als Sharon scheint er Nerven aus Stahl zu haben.
„Vielleicht wussten sie es nicht. Keiner von ihnen ist ein Legionsführer“, wirft Finn ein.
„Oder einer von ihnen hat es den Führern gesteckt“, schimpft Sharon weiter. Sie fährt sich mit der Hand über ihr streng zurückgebundenes Haar. Es ist ihr deutlich anzusehen, dass sie es sich vor Wut und Verzweiflung am liebsten ausreißen würde.
Finn hingegen versucht genau wie Raymond ruhig zu bleiben, was ihm mit seinem stürmischen Temperament sicher nicht leicht fällt. „Deshalb ist es umso wichtiger, dass wir jemanden in die Riege der Legionsführer geschleust bekommen. Cleo ist die Einzige, die dazu in der Lage wäre.“
„Oder sie verrät ihnen alles, was sie nicht ohnehin schon wissen. Verdammt, sie weiß , wo euer Lager ist!“
Sharons Anschuldigungen gehen also weiter, aber dieses Mal werde ich nicht meinen Mund halten. Ich habe das Recht zu sprechen, wie jeder andere.
„Glaubst du wirklich , das wüssten sie nicht schon längst? Die Legion hält euch durch eine Strom-Mauer eingeschlossen. Sie beobachten euch , und das schon lange , bevor ich entführt wurde.“
Ich benutze absichtlich das Wort ‚entführt’ und nicht ‚gerettet’ , wie es Finn am Tag zuvor getan hat. Meine Worte scheinen Wirkung zu zeigen, denn Sharon ist wenigstens für einen Moment still. Sie hat ihre Stirn in Falten gelegt und die Lippen fest aufeinander gepresst, während sie unruhig auf und ab wippt.
„Hast du gewusst, dass sie uns beobachten?“, fragt nun auch noch Raymond. Doch seine Stimme hat nicht den anklagenden Ton von Sharon. Die Frage ist neutral gestellt. Trotzdem reagiert Finn ungehalten. Offenbar kann er sich nicht länger beherrschen, denn seine Hände sind zu Fäusten geballt , mit denen er sich nun auf die Knie schlägt.
„Sie wusste ja nicht mal, dass es Rebellen gibt. Sie dachte , sie stirbt an der radioaktiven Strahlung, sobald sie die Sicherheitszone verlässt. Hört endlich auf , sie zu beschuldigen. Der Einzige, der euch was verheimlicht, ist Gustav!“
Ich hätte es kaum für möglich gehalten, doch in diesem Moment wird Gustav noch blasser , als er ohnehin schon ist. Schützend hält er sich die Hände vor den Bauch, so als hätte er Krämpfe, die er nur schwer unterdrücken kann.
Auch Sharon reagiert irritiert. „Was soll das heißen?“
„Sag es ihnen!“, zischt Finn Gustav mit zu Schlitzen geformten Augen zu.
„Ich weiß nicht , wovon der Junge redet“, behauptet Gustav abwehrend, doch seine Stimme ist so schwach und zittrig, dass man ihn kaum versteht. Er wagt es dabei nicht einmal , jemanden anzusehen.
„Dann fällt es dir hoffentlich sofort wieder ein oder ich helfe dir dabei! Aber glaub mir, das wäre nicht in deinem Interesse.“ Sharon baut sich bedrohlich vor ihm auf. Obwohl sie nicht über die enorme Größe von Raymond verfügt, ist ihre aggressive Körperhaltung Angst einflößend genug. Ich sehe , wie Gustav schluckt und die Hände noch fester auf den Bauch presst. „Ich… ich wusste von der Mauer.“
„Woher und seit wann?“
„Sie haben sie errichtet, bevor ich und die anderen die Legion verlassen haben. Wir waren nie Rebellen, sondern die ersten Menschen einer Expedition.“ Zum ersten Mal, seit ich ihn kenne, hört sich Gustav wirklich alt an. Er wirkt müde und erschöpft, so als wäre alleine die Erinnerung schon zu anstrengend für ihn.
„Geht es vielleicht etwas ausführlicher?“
„Die Legion hat die Mauer schon lange davor errichtet. Sie mussten testen , ob ein Leben außerhalb der Sicherheitszone überhaupt möglich ist. Nachdem die Versuche mit Pflanzen und Tieren geglückt waren, suchten sie Freiwillige für den Versuch am Menschen. Sie beobachten uns nicht. Es gibt keine Kameras.“
Sharon schüttelt unwillig den Kopf. Ihr ganzer Glaube an eine seit bereits Jahrzehnten bestehende Legion bricht in diesem Moment zusammen.
Raymond führt die Befragung für sie fort. „Warum haben sie die Mauer nicht entfernt , als sie gemerkt haben, dass alles in Ordnung ist?“
„Sie konnten sich nicht sicher sein. Die Auswirkungen von Radioaktivität sind oft erst Jahrzehnte später zu sehen.“
„Aber jetzt können sie sich sicher sein! Warum lassen sie uns nicht frei? Warum bekämpfen sie uns? Warum wollen sie nicht, dass wir davon wissen?“, schreit nun
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