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Rächerin der Engel

Rächerin der Engel

Titel: Rächerin der Engel Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Mary Stanton
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Just what you expect me to do.
Tim Rice, »Waltz for Eva and Che«, Evita
    Melrose lag anmutig und abgeschieden am Fluss. Zu dieser Jahreszeit war die sommerliche Farbenpracht des Gartens, der das große alte Haus umgab, einem silbrig schimmernden Grün gewichen. Die dichten Dolden der Hortensien waren verwelkt und hatten eine milchkaffeebraune Farbe angenommen. Die Rosenbüsche waren beschnitten und mit Schnur hochgebunden worden. Zwischen den Büschen wölkten zarte Kamelien, und der Duft der Blumen hing wie Parfüm bei einer Premiere in der Luft. Auf dem grünen Rasen hatten sich Bartflechten angesammelt, die vom Wind hin und her geweht wurden. Die Pfade waren mit silbrig schimmernden Ästen übersät, die der Sturm von den Eichen gerissen hatte.
    Melrose war zwei Stockwerke hoch, und jede Etage war mit einem breiten, von dorischen Säulen gestützten Verandavorbau versehen. Von den Veranden führten zweiflügelige Glastüren ins Haus. Manchmal meinte Bree, am meisten liebe sie an Savannah die ungeheure architektonische Vielfalt, die diese Stadt aufzuweisen hatte. Da gab es Gebäude im georgianischen und im Queen-Anne-Stil, neben denen wiederum Häuser im föderalen Stil oder Villen standen, die pure Südstaatengotik waren. Doch jedes Mal, wenn sie Melrose aufsuchte, das sie an Plessey erinnerte, das Anwesen ihrer Familie in Carolina, kam ihr zu Bewusstsein, dass es der charakteristische Stil des Alten Südens war – mit breiten Veranden und stämmigen Säulen –, dem sie den Vorzug gab. Das musste auch Professor Cianquinos Einstellung gewesen sein. Er war in dem Jahr, da Bree ihren Universitätsabschluss gemacht hatte, emeritiert worden und hatte das im Erdgeschoss gelegene Apartment gekauft, wo er seitdem ein zurückgezogenes Leben führte.
    Als Bree den mit Ziegeln gepflasterten Weg zur Haustür hochging, blieb sie kurz stehen. Die Visitenkarte mit Leahs Namen befand sich noch immer in ihrer Handtasche. Im Moment war die Zeit nach seiner Emeritierung möglicherweise nicht ganz so ruhig, wie er es erhofft hatte.
    Während sie durch die Haustür in die Eingangshalle trat, schlug ihr der vertraute Geruch von Möbelpolitur und Treibhausblumen entgegen, in den sich eine anheimelnde, für alte Häuser typische Muffigkeit mischte. Die Blumen in den großen Jadevasen auf der Sheraton-Kommode, die an der Wand stand, waren frisch.
    Bevor Bree dazu kam, an die Wohnungstür zu klopfen, wurde sie schon von dem im Rollstuhl sitzenden Professor geöffnet. Im Laufe des letzten Jahres war sein Haar völlig weiß geworden, sodass er Bree jetzt an alte Seidenbilder von chinesischen Philosophen erinnerte. Er war dünn und schmächtig, ohne gebrechlich zu wirken, und alt und müde von der Last dessen, was er über diese Welt wusste. Und auch, wie Bree vermutete, über die jenseitige.
    »Wie geht es Ihnen, liebe Bree?«
    »Ganz gut«, erwiderte sie. »Eigentlich wollte ich auf dem Weg hierher noch am Park Avenue Market haltmachen, um Ihnen diesen Krabbensalat mitzubringen, den Sie so mögen, aber das habe ich dann doch völlig vergessen.«
    »Vielleicht bei Ihrem nächsten Besuch.« Er fuhr mit seinem Rollstuhl zurück und winkte sie herein.
    Sein Wohnzimmer spiegelte seine asketischen Gewohnheiten wider. Am einen Ende des Raumes stand ein einfaches Ledersofa, von dem aus man einen Blick auf die Fenster und den dahinter liegenden Fluss hatte. Der gebohnerte Kiefernholzfußboden war frei von Teppichen und allem, was ihn daran gehindert hätte, mit seinem Rollstuhl voranzukommen. Eine Ecke des großen Zimmers wurde von einem bequemen Sessel mit einer Leselampe eingenommen. Außer einem kleinen Schrank mit einem Fernseher war das die gesamte Einrichtung. Die Treffen der Compagnie fanden jedoch niemals in diesem Raum, sondern immer in Cianquinos Bibliothek statt.
    Bree folgte ihm über den glatten Fußboden bis zur Tür der Bibliothek, die aus Rosenholz bestand, in das Kugeln geschnitzt waren, die dieselbe Form und auch dieselbe Größe hatten wie die Kugeln des schmiedeeisernen Zauns, der das Haus in der Angelus Street 66 umgab.
    Der hier herrschende Kontrast zur Kargheit des Wohnzimmers hätte kaum größer sein können. Die Wände wurden von Bücherregalen gesäumt, die bis zur Decke reichten und mit Büchern der unterschiedlichsten Art vollgestopft waren. Dicke, ledergebundene Bände mit illuminierten Handschriften standen neben naturwissenschaftlichen Lehrbüchern, Gesetzessammlungen, Lyrikbänden und archäologischen

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