Rächerin der Engel
winkt …
Edward FitzGerald, Die Sinnsprüche Omars des Zeltmachers
»Ich weiß nicht, was es war«, sagte Bree. »Zuerst erschien Onkel Franklin, dann tauchte etwas anderes auf.«
»Die Pendergasts«, meinte Lavinia mit düsterer Miene.
»Nein, die waren’s nicht«, erwiderte Bree. »Es war etwas … ich weiß auch nicht … etwas Älteres, würde ich meinen.«
Im kleinen Wohnzimmer des Hauses in der Angelus Street hatten sich fünf der sieben Mitglieder von Beaufort & Compagnie versammelt: Ron, Lavinia, Sascha, Petru und natürlich Bree selbst. Sie wusste nicht, ob man Miles und Bellum auch zu den Angestellten zählen konnte; wahrscheinlich eher nicht. Die beiden massigen Hunde saßen wie eine Eins links und rechts vom Kamin. Bree war unendlich froh, dass sie da waren.
Über dem Kamin hing das Gemälde des Sklavenschiffes. Als Bree am Morgen ins Büro gekommen war, hatte sie beunruhigt festgestellt, dass sich das Seestück inzwischen verändert hatte. Das Wasser des Meeres war röter, das Gelb der Sonne stumpfer geworden. Hinter den sich blähenden Segeln des Schiffes zeichneten sich jetzt die schwachen Umrisse von etwas Gekrümmtem ab. Bree kniff die Augen zusammen. Möglicherweise war es ein Schnabel. Das Wesen, das sie im Sturzflug angegriffen hatte, hatte einen Schnabel gehabt.
»Etwas Älteres, sagen Sie«, erwiderte Petru. »Könnten Sie es vielleicht genauer beschreiben?«
»Nein, leider nicht. Ich wünschte, ich könnte es.« Unruhig rutschte sie auf ihrem Stuhl hin und her. Sascha saß neben ihr auf dem Fußboden. Ron und Lavinia teilten sich das kleine Ledersofa. Petru stand hinter dem Sofa, die Hände auf seinen Stock gestützt. Bree betupfte die Wunde an ihrem Handgelenk. Sie ging nicht sonderlich tief, es war nichts als ein Kratzer, so wie von einem Vogel, doch das Blut wollte einfach nicht gerinnen. Der Verband, den sie am Abend zuvor angelegt hatte, war nach und nach durchgeweicht. Beim Aufwachen hatte sie festgestellt, dass ihr Bettzeug zahlreiche feuchte rote Flecken aufwies.
»Ich glaube, ich hab da etwas für die Wunde an Ihrem Arm«, sagte Lavinia. »Bin gleich wieder da, Kind.« Leise ächzend stand sie auf und schlurfte aus dem Zimmer, um nach oben zu gehen. Am Morgen hatte Bree noch eine andere Veränderung in dem alten Haus bemerkt. Der Engel auf der untersten Treppenstufe hatte seine Haltung verändert. Er oder sie oder es (Ron hatte ihr vor einiger Zeit erklärt, Engel seien geschlechtslos) trug ein purpurnes Gewand und hatte – ebenso wie Bree – silberblondes Haar. Statt wie bisher nach oben zu blicken, hatte er sich halb zur Seite gedreht und blickte nun zurück.
Fast so, als würde er verfolgt.
»Sehrr ungewöhnlich«, meinte Petru. »Ich habe keine Ahnung, was das sein könnte.«
Lavinia kam mit einem Klumpen lieblich duftenden Mooses in der Hand zurück. »Das hier ist von zu Hause, von den Ufern meines Flusses.« Sie nahm Brees Hand und presste das Moos vorsichtig auf die Wunde. »Sehen Sie mal, Kind. Ich glaube, es hat schon aufgehört.«
»Na, Gott sei Dank«, sagte Ron. »Eigenartig. Grad neulich hab ich was über die Umweltverschmutzung am Nil gelesen. Da kann man mal sehen«, fügte er vage hinzu.
Bree, die sich nicht so recht vorstellen konnte, dass die gebrechliche Lavinia an den Ufern des Savannah nach Heilkräutern suchte, wurde plötzlich klar, dass zu Hause Afrika bedeutete. »Was immer es war, und wer immer es war, ich glaube nicht, dass es auf mich aus war, weil es wieder von mir abgelassen hat, noch bevor Miles und Bellum mir zu Hilfe kamen. Trotzdem bin ich euch natürlich für eure Unterstützung sehr dankbar«, wandte sie sich an die beiden Hunde.
Bellum gähnte.
»Also jedenfalls gefällt es mir nicht, dass Sie in Franklins altes Büro einziehen wollen, das steht fest«, erklärte Lavinia. »Wer weiß, was da noch alles zur Tür reinkommt!«
»Allmählich wird es ein bisschen peinlich, kein irdisches Büro zu haben«, entgegnete Bree. »Meine Familie bombardiert mich schon mit Fragen. Meine Freunde finden es merkwürdig, dass sie mich nicht in meinem Büro aufsuchen können.«
»Das ist nicht ganz von der Hand zu weisen«, sagte Ron. »Und was wollen Sie jetzt machen?«
»Hat denn jemand von Ihnen eine Ahnung, was mich gestern Abend angegriffen haben könnte?«
»Rätselhaft«, murmelte Lavinia. »Rätselhaft und beunruhigend.«
»Ich werde mal mit Armand reden«, verkündete Petru, »würrde aber vermuten, dass er sich das ebenso wenig
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