Rätsel des Nordens (Thenasia) (German Edition)
kann dir die Bürde, die das Tribunal dir heute
gegeben hat, nicht abnehmen. Ich will es auch gar nicht, weil du an dieser
Aufgabe wachsen musst. Aber ich kann dir helfen, mit ihr fertig zu werden, wenn
es dies dein Wunsch ist.“
Blitzartig erschien der Magier in
Regnirs Augen überaus gebrechlich. Das Haar, das vorher zum Teil noch schwarz
war, wirkte, als wenn es vollkommen ergraut wäre. Sorgenfalten hatten sich in
sein Gesicht gegraben und der Körper war abgemagert.
„Mein lieber Thormir“, begann Regnir.
„Du hast mich aufgenommen, als meine Eltern durch die Hand der Orks gestorben
waren. Du hast für mich in all den Jahren gesorgt und mich geschützt. Du hast
mich in allen Künsten unterrichtet, obwohl ich mehr als ein Mal lernresistent
war. Und nun soll ich noch mehr von dir verlangen?“ Wehleidig blickte er in die
Augen des Magiers, der sich halb auf einen Stuhl stützte, dann fuhr er fort:
„Ich kann nicht immer an deinen Rockschößen hängen und fordern. Doch verdamm
mich: Ich spüre, dass ich deine helfende Hand benötigen werde. Vielleicht sogar
dringender als je zuvor. Sollte ich dir aber irgendwann zur Last fallen, so sage
es mir bitte. Meister Thormir. Am heutigen Tag ernenne ich dich zum Kanzler.
Ich bitte dich, mir mit Rat und Tat zur Seite zu stehen, wann immer du glaubst,
dass meine Kräfte für die Lenkung der Geschicke unseres Volkes nicht mehr
ausreichen oder sobald dein Geist bessere Früchte als der meine in sich trägt.“
Nun war auch Thormir überrascht -
der einstmals kleine Junge, der sich in den Lehrstunden so schwer tat, mit
seinem Willen auch nur eine Kerze zu entflammen, war in der Tat binnen weniger
Stunden ein König geworden.
Beide saßen noch lange Zeit in
dem großen Rundzelt beisammen und besprachen den weiteren Weg und trennten sich
erst, als der Morgen bereits nahe war. Regnir wankte anschließend erschöpft zum
Zelt seiner Frau zurück, die von dem ganzen Geschehen wenig, bis gar nichts
mitbekommen hatte. Er war als einfacher Edelmann am gestrigen Tag von ihr
gegangen und kehrte nun als König zurück.
Kapitel 2 – Dringende
Angelegenheiten
Am Morgen nach dem
kräftezehrenden Tribunal war Regnir neben Ingmir aufgewacht. Noch jetzt war all
dies für ihn unglaublich gewesen, doch war es umso realer, als ihm schon bald
konkrete Planungen durch die Edelmänner unterbreitet wurden. So steil sein
Aufstieg vom einfachen Edlen zum König war, so schnell gewöhnte sich Regnir an
seine neue Rolle als Herrscher. Oder wie es im Lager scherzhaft formuliert
wurde: Er wurde an sie gewöhnt, denn die Errichtung der ersten Stadt vollzog
sich nicht von allein, wenngleich Regnir mit Thormir einen eifrigen Helfer an
seiner Seite wusste. Der neue Tag begann mit einer warm herabscheinenden Sonne
und dem fröhlichen Gezwitscher ganz unterschiedlicher Vogelarten. Sehr früh war
alles auf den Beinen. Kinder tollten neben ihren Eltern umher, die erst im
Morgengrauen Kunde von dem letzten Tribunalsbeschluss erhalten hatten. Die
Älteren unter ihnen murrten ein wenig: „Wo das wieder hinführen soll!“
Sorgfältig packte ein jeder sein Kleinod zusammen und achtete darauf, dass jede
noch so winzige Kostbarkeit mitgenommen wurde. Tatsächlich war immer Vorsicht
geboten, sobald der Weiterzug anstand. Tagediebe und Kleinkriminelle sorgten
nicht selten für einen beträchtlichen Schwund der ohnehin geringen Besitztümer
der Familien.
Der Plan für die kommenden Tage
stand fest und so brachen die Menschen ihre Zelte ab und begaben sich gen
Norden. Bis auf einige verstreute Orks traf der Tross auf keinerlei Widerstand.
Selbst die Kundschafter konnten keine Feindspuren finden. Allerdings kam es
kurz vor dem Aufbruch zu einem kleineren Zwischenfall, nachdem bekannt geworden
war, dass Gharmon zuvor die Edelmänner zur Rebellion gegen den
Tribunalsbeschluss aufstacheln wollte. Doch selbst jene, die kurz vorher gegen
Thormirs Vorhaben gestimmt hatten, waren jetzt entschlossen, gemeinsam mit dem
König zu ziehen. Gemäß den Gesetzen der Menschen hätte Gharmon verbannt werden
müssen, weil die Entscheidungen eines Tribunals als für jedermann verbindlich
angesehen wurden. Regnir erhob jedoch Einspruch, weil er nicht wollte, dass
seine Herrschaft mit Bitterkeit begann. Nur aus diesem Grunde wurde es Gharmon
gestattet, bei den Menschen zu bleiben. Nie wieder sollte es einem König
gestattet sein, eine derartige Zuwiderhandlung zu begnadigen.
Und so zog der Tross unbehelligt
von den Orks an
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