Rätselhafte Umarmung
deutlich spürte er den Druck, so als würde er von allen Seiten bedrängt. Es war ein bisschen so, wie wenn er in die schwarzen Tiefen des Ozeans tauchen würde: ein seidiges Nichts drang von allen Seiten auf ihn ein und drohte, seine Brust einzudrücken. Um dem Gefühl zu entkommen, riss er die Terrassentür auf und trat hinaus auf die gepflasterte Terrasse.
Wie schon vorhin beruhigte ihn die kühle Luft. Er ließ sich auf eine Bank sinken, beugte sich vornüber, stützte die Ellbogen auf die Schenkel und rieb sich mit den Händen den Nacken.
Er hatte gewusst , daß Serena sterben würde, als er sie geheiratet hatte. Er hatte sie geliebt, und deshalb hatte er den Gedanken nicht ertragen, sie allein in den Tod gehen zu lassen. Ihr körperlicher Verfall und schließlicher Tod waren das Schlimmste, was er sich überhaupt vorstellen konnte. Für sie hatte er beides auf sich genommen, aber er hatte sich geschworen, nie wieder etwas Ähnliches durchzumachen.
Rachel wird nicht sterben.
»Nein, aber sie wird leiden, und ich habe genug Leid in meinem Leben gehabt.«
Und was ist mit dir? Du könntest ihr Leiden mindern. Du könntest ihr ein bisschen von ihrer Last abnehmen.
»Wie denn?« fragte er seine innere Stimme, während er die Brille abnahm und sich mit Daumen und Zeigefinger über den Nasenrücken rieb.
Mit Zauberei.
Bryan musste lachen. Er war nicht sicher, ob er überhaupt noch wusste , was Zauberei war. Sollte er glauben, er bräuchte nur einen Hasen aus seinem Hut zu ziehen, und schon wären Rachels und Addies Probleme gelöst? So einfach war das nicht.
Aber es könnte helfen.
Er setzte seine Brille wieder auf, fasste in die Brusttasche seines Hemdes und zog einen kleinen, gut zehn Zentimeter langen und dünnen Zauberstab hervor. Mit einer flinken Handbewegung verwandelte er ihn in eine rote Seidenrose mit einem dünnen Stiel, der abrupt über seine Handkante sank. Ein Lächeln spielte um seine Mundwinkel.
»Wenn ich sie mit meiner Zauberei nicht blenden kann, so kann ich sie doch ein bisschen ablenken«, meinte er trocken und stopfte die verwelkte Rose zurück in die Hemdtasche. Seit Monaten hatte er nicht einmal mehr die einfachsten Tricks zustande gebracht. Obwohl er unverdrossen weiter übte, hatte er insgeheim befürchtet, er könnte seine magischen Fähigkeiten für immer verloren haben.
Er stand von der Bank auf und schlenderte zurück ins Haus. Auf seinen breiten Schultern lasteten Erschöpfung und Stress , deshalb kehrte er zu dem Whiskeyglas zurück, das er auf der ledernen Schreibunterlage des Walnußholzschreibtisches gelassen hatte. Er hatte gehofft, daß ihm der ausgezeichnete Whiskey, den er in einer Schreibtischschublade entdeckt hatte, beim Einschlafen helfen würde. Das Glas war fast leer. Bryan runzelte die Stirn. Er hätte schwören können, daß noch zwei Fingerbreit darin gewesen war, als er nach draußen gegangen war. Er bemerkte weder den nassen Fleck auf dem alten Wollteppich zu seinen Füßen noch den Whiskeygeruch, der davon aufstieg. Ihm fiel nur auf, daß sein Whiskey weg war, und ihm war nicht danach, sich noch einen einzuschenken.
Achselzuckend schüttete er den Rest des Drinks hinunter. Sein Gedächtnis war noch nie seine Stärke gewesen.
Im Arbeitszimmer war es ruhig. Dieses Zimmer war angeblich ein Treibhaus paranormaler Aktivität, aber in den paar Tagen, die er jetzt hier war, war noch nichts Außergewöhnliches vorgefallen. Schlimmer noch, Bryan spürte auch nichts Ungewöhnliches; er spürte überhaupt nichts.
Während er sich in dem dunklen Zimmer umschaute, erwog er deprimiert die Möglichkeit, daß er nicht nur das Gespür für seine Zauberei, sondern auch für seinen Beruf verloren hatte. Er war immer außergewöhnlich erfolgreich darin gewesen, parapsychische Störungen aufzuspüren. Er hatte immer die Fähigkeit gehabt, sich in seine Umgebung einzufühlen und Dinge wahrzunehmen, die andere nicht bemerkten. Seine Empfindsamkeit in solchen Dingen hatte ihn diese Laufbahn einschlagen lassen. Hatte sie ihn jetzt verlassen?
Zu müde, um noch darüber nachzudenken, verließ er das Zimmer und ging den Gang hinunter - auf der Suche nach einer einigermaßen bequemen Schlafgelegenheit.
Kapitel 4
Rachel schlief unruhig und wachte früh auf. Weiches, graues Licht drang durch das Fenster ins Zimmer. Sie kämpfte sich aus der Decke, in die sie sich verheddert hatte, und rutschte zurück, bis sie sich ans Kopfende des Bettes lehnen konnte. Sie war immer noch
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