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Rätselhafte Umarmung

Rätselhafte Umarmung

Titel: Rätselhafte Umarmung Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Tami Hoag
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zu wappnen. Sie wollte ihrer Mutter gefallen, deshalb zog sie eine konservative weiße Bluse und ein waldgrünes Trägerkleid an und frisierte sich ausgiebig. Schließlich drehte sie sich um, um das Bett zu machen. In diesem Augenblick sah sie die Rose.
    Eine einzelne, gelbe Rose lugte leicht verdrückt unter dem zweiten Kissen hervor, das sie die ganze Nacht über gedrückt und herumgewälzt hatte. Sie ergriff den Stiel der Blume und starrte sie entsetzt und ungläubig an. Ein Blütenblatt löste sich und segelte auf das Bett hinab.
    Bevor sie wusste , wie ihr geschah, durchflutete sie Wärme. Eine Rose. Wie schön. Wie charmant. Wie lieb. Dann erglühten ihre Wangen, und Entrüstung machte sich breit. Bryan Hennessy hatte sich in ihr Zimmer geschlichen! Er war in ihr Zimmer gekommen, während sie geschlafen hatte.
    Wie erbärmlich und schamlos! Wie lange hatte er wohl neben ihrem Bett gestanden und sie angestarrt? Eine Minute? Fünf Minuten? Schon bei der Vorstellung wäre sie am liebsten vor Scham in den Boden versunken. Vielleicht hatte sie ja im Schlaf gesprochen oder geschnarcht, während dieser Kerl, den sie kaum kannte, sie beobachtet hatte!
    Rachel verschob das Bettenmachen auf später, machte auf dem Absatz kehrt und stürmte aus dem Zimmer, um ihren mitternächtlichen Besucher zur Rede zu stellen.
    Bryan wachte ganz langsam auf, denn er wusste instinktiv, daß er ohne Bewusstsein besser dran war. Darauf deutete alles hin, während sich sein Geist vorsichtig aus den Tiefen des Schlafes hocharbeitete: ein Zwicken hier, ein Stechen dort. Trotzdem öffneten sich seine Lider halb, und er rieb sich mit der Handfläche über die zwei Tage alten Stoppeln. Er durfte auf keinen Fall vergessen, sich nachher zu rasieren.
    Das Licht im Billardzimmer war gedämpft. Es war noch früh, vermutete er, früh genug, um die Vogelkäfige sauberzumachen, bevor Addie aufstand. Stöhnend setzte er sich auf der filzbespannten Spielfläche des alten Billardtisches auf lind schwang die Beine über die Bande. Sein Körper protestierte mit jedem Muskel und jedem Knochen.
    »Vielleicht werde ich langsam zu alt für diese Sachen«, überlegte er, während er seine Brille vom Queue-Ständer nahm und aufsetzte. Er betrachtete sich in dem goldgerahmten Spiegel an der Wand, der ungefähr genauso groß war wie der Billardtisch. Selbst unter den jahrzehntealten Staubschichten sah er schlecht aus. Er sah aus wie ein Landstreicher. Sein Hemd war zur Unkenntlichkeit verknittert und steckte nur noch an einem Zipfel in der genauso verknitterten Hose. Die welkende Zauberrose hing traurig aus der Hemdtasche.
    Duschen, Rasieren und saubere Kleider waren das Wichtigste heute morgen, entschied er, während er sich mit den Fingern die zerzausten Haare zurückkämmte. Aber zuallererst kamen die Vogelkäfige an die Reihe.
    Er ging in den Salon und förderte die Kaffeekanne voll Vogelfutter zutage, die Addie immer hinter dem rotsamtenen Recamier versteckte. Hinter dem Recamier befanden sich außerdem ein Dutzend ungeöffneter Beutel mit Vogelfutter und ein dreißig Zentimeter hoher Stapel ebenfalls ungeöffneter Post. Addie versteckte mit Begeisterung alle möglichen Dinge wie ein Eichhörnchen, das Nüsse für den Winter hortet. Und genau wie die Eichhörnchen vergaß Addie bisweilen, wo sie ihre Vorräte versteckt hatte. Sie vergaß allerdings nie, wo sie ihr Vogelfutter hingetan hatte. Sie vergaß nur manchmal, daß sie keinen Vogel besaß.
    Bryan fragte sich, in welchem Zustand sie heute morgen wohl sein würde. Er hoffte für Rachel, daß Addie eine ihrer vernünftigeren Perioden hatte. Die beiden hatten eine Menge zu bereden, vieles klarzustellen und nicht viel Zeit. Denn das war das einzig Sichere an Addies Krankheit: sie würde fortschreiten. Es würde keine Heilung, keine Pause geben. Was zwischen Mutter und Tochter geregelt werden musste , musste so bald wie möglich geregelt werden.
    »Nicht, daß ich mich einmischen würde«, brummelte Bryan, während er einen Drahtkäfig öffnete und die Samen aus dem Futtertrog in die Kaffeekanne schob. »Ich kümmere mich hier ausschließlich um meinen Kram; ich mache bloß meinen Job.«
    Und um sich von der inneren Stimme abzulenken, die ihm etwas anderes einzureden versuchte, begann er leise vor sich hin zu singen: »Ich hatte einen Geist in Kalamazoo ...«
    »Mr. Hennessy.« Rachel blieb in der Tür zum Salon stehen und wollte gerade mit ihrer Tirade beginnen, da ließ sie Bryans Anblick innehalten. Er

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