Rätselhafte Umarmung
erschöpft. Die bloße Vorstellung, jetzt aufzustehen, ließ sie stöhnen, und als sie sich ausmalte, was sie erwartete, wäre sie am liebsten wieder unter die Decke gekrochen. Nicht, daß ihr das etwas genutzt hätte. Sie hatte die ganze Nacht über kaum einen Moment Ruhe gefunden. Träume hatten sie verfolgt, einer nach dem anderen, hatten sich ineinander verwoben und versponnen, bis Rachel sie nicht mehr auseinanderhalten konnte. Selbst jetzt setzten ihr ihre Gefühle zu. Das stärkste darunter war panische Angst.
Im wesentlichen hatte sich ihr Traummarathon um Addie gerankt. Wie sollten sie je zusammen durchstehen können, was vor ihnen lag, wenn Addie sich nicht von ihr helfen ließ? Es war eines, wenn Rachel verkündete, daß sie sich um Addie kümmern wollte. Etwas ganz anderes war es, diese Aufgabe auch durchzuführen. Addie hatte nie zu den Menschen gehört, die händeringend beiseite traten und ihr Leben von anderen organisieren ließen. Stark und unabhängig war sie gewesen, sogar diktatorisch. Wie ein Admiral seine Flotte hatte sie Rachels und ihr Leben gelenkt.
Rachel war inzwischen eine Frau und nicht mehr das unterwürfige, gehorsame kleine Mädchen von einst. Durch Terences Weigerung, Verantwortung zu übernehmen, war sie in die Führerrolle gedrängt worden. Sie hatte ihre Aufgabe genauso pflichtbewusst und entschlossen erfüllt wie ihre Mutter damals. Sie wusste aus Erfahrung, wie man mit einer schwierigen Situation fertig wird.
Aber sie hatte trotzdem keine Ahnung, wie sie mit Addie umgehen sollte. Es kam ihr ausgesprochen unnatürlich vor, die Rolle ihrer Mutter als Familienoberhaupt zu übernehmen und Addie auf den zweiten Platz zurückzudrängen. Und sie hatte die düstere Vorahnung, die wie ein Eisklumpen in ihrem Magen lag, daß Addie nicht kampflos weichen würde.
Der erste logische Schritt war der Termin, den Rachel mit Dr. Moore vereinbart hatte. Vielleicht würde er Addie zur Einsicht bringen können. Hoffentlich hatte Bryan mit seiner Behauptung recht gehabt, daß Addie morgens in besserer Verfassung war, ihre Tochter besser verstand und besser mit den unvermeidlichen Veränderungen fertig werden konnte.
Eine winzige Hoffnung flammte in ihr auf, die gleich heller zu leuchten begann, als sie an Bryan dachte.
Eigenartig klar sah sie vor sich, wie er aufwachte. Sein braunes Haar war zerzaust, und seine blauen Augen blickten müde unter schweren Lidern hervor. Er würde mit der Hand über die Stoppeln auf seinem markanten Kinn reiben. Fast konnte sie seinen warmen, männlichen Duft riechen, konnte sie seinen warmen Körper neben sich im Bett spüren. Wärme strömte in ihre Glieder und erzeugte ein angenehmes Glühen in ihrem Bauch.
Rachel öffnete die Augen und wäre beinahe aus dem Bett gesprungen.
»Wie kommst du eigentlich dazu, so was zu denken, Rachel Lindquist?« wollte sie von ihrem Ebenbild in dem gesprungenen Spiegel wissen. Mit ihren roten Wangen und dem wild zerwühlten Haar sah sie aus wie ein Flittchen. Ihr hübscher Mund verzog sich missmutig . »Was ist mit dir los? Bryan Hennessy spielt keine Rolle in deinem Leben und wird das auch nie tun. Das wirst du heute morgen als allererstes klarstellen.«
Ob er tatsächlich ein Wissenschaftler war oder nicht, war dabei vollkommen nebensächlich. Sie konnte es sich nicht leisten, ihn für seine fragwürdigen Dienste zu bezahlen. Sie musste an die Arztrechnungen und die Miete denken.
Trotzdem machte sie der Gedanke wütend, daß er Geld von Ad-die nahm. Ihre Mutter war offensichtlich nicht im Vollbesitz ihrer geistigen Kräfte. Daß sie plötzlich Geister sah, war höchstwahrscheinlich eine Folge der Alzheimer Krankheit. Rachel hatte gelesen, daß manche Menschen, die unter dieser verstandraubenden Krankheit litten, Halluzinationen hatten. Dieser Geist, dieser »Wimsey«, war wahrscheinlich nur eine Wahnvorstellung. Die Mutter, an die Rachel sich erinnern konnte, hätte genauso wenig an Geister wie an den Osterhasen geglaubt.
Rachel tappte über den kalten Boden ans Fenster, um zum ersten Mal einen Blick aus Drake House zu werfen. Nachdem sie über zwei abgetretene Mokassinschuhe gestiegen war und einen Vogelkäfig umrundet hatte, zog sie den Vorhang zurück. Nebel nahm ihr die Sicht. Sie konnte in der Ferne den Ozean hören, aber sie sah weder den Rasen noch die Klippe oder gar das blaue Wasser darunter.
»Wie bezeichnend für mein Leben«, bemerkte sie trocken.
Sie wandte sich vom Fenster ab und begann sich für den Tag
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