Rätselhafte Umarmung
gegen das hohe hölzerne Kopfende des Bettes und lehnte sich dagegen.
Das Licht erhellte nur das halbe Zimmer und ließ einen großen Teil in tiefem Schatten. Ein riesiger, düster aussehender Kleiderschrank stand dem Bett gegenüber; eine Tür war halb geöffnet, und aus der obersten Schublade hingen Tennissocken, als wollten sie sich gerade heimlich davonschleichen. Rechts neben ihr stapelten sich alle möglichen Gegenstände an der Wand - alte Überseekoffer, Holzstühle und ein Vogelkäfig, in dem ein Geier Platz gehabt hätte. Links neben dem Bett stand eine Frisierkommode mit gesprungenem Spiegel. Bücher stapelten sich darauf, und die Platte war mit Karten und Notizen übersät, als würde die Kommode als Schreibtisch benutzt.
Auf dem Nachttisch neben dem Bett fand sich ein weiterer Hinweis auf Bryan Hennessy. Dort lag eine Uhr, die entweder nachging oder auf eine andere Zeitzone eingestellt war. Rachel nahm sie in die Hand und untersuchte sie genauer. Sie fand, daß sie das Recht hatte zu erfahren, wer dieser Mann war, den ihre Mutter ins Haus gelassen hatte. Es war eine elegante Golduhr mit einem braunen Lederband, dessen Form sich im Lauf vieler Jahre dem Handgelenk seines Trägers ange passt hatte. Sie hatte ein altmodisches Zifferblatt ohne leuchtende Digitalziffern, sondern mit aufgemalten Zahlen und dünnen Zeigern. Auf dem Rücken war IN LIEBE, MOM UND DAD 1977 eingraviert.
Rachel legte sie vorsichtig wieder auf dem Nachttisch ab und schaute das Foto in dem schlichten Goldrahmen an. Ein jüngerer Bryan Hennessy stand mit akademischem Barett und Talar hinter drei lächelnden jungen Frauen - einer Blondine, einer Brünetten und einer Rothaarigen. Wenigstens war er für alles aufgeschlossen, dachte Rachel. Der Gedanke versetzte ihr einen Stich der Eifersucht.
Sie ignorierte das unwillkommene Gefühl und musterte die zerknüllten Papierschnipsel, die auf die staubige Nachttischplatte geworfen worden waren. Es waren Notizen mit eigenartigem Inhalt wie »Jayne sagt, Frühstück nicht vergessen«, »Bücherei gehen - Vergangenheit Drake House«, »Essen mit Faith und Shane, Punkt sieben. Friseur!«, »Addie evtl. psychokinetisch begabt? Erklärung für Objektbewegung in Raster 9«.
War Bryan Hennessy am Ende doch ein Wissenschaftler? Es erschien ihr unwahrscheinlich, daß ein Betrüger soweit gehen würde, Notizen wie die letzte auf seinem Nachttisch liegenzulassen, nur für den unwahrscheinlichen Fall, daß jemand mit klar funktionierendem Verstand darüber stolperte. Andererseits war jemandem, der sich als Geisterjäger ausgab, wohl alles zuzutrauen.
Rachel konnte einfach nicht an Geister glauben. Es war schon schwer genug, mit der Wirklichkeit fertig zu werden; sie hatte keine Zeit, sich auch noch über Unnatürliches den Kopf zu zerbrechen. Sie wusste , daß sie sich auf das Hier und fetzt konzentrieren musste . Sie musste sich mit den düsteren und höchst realen Zukunftsaussichten für sich und ihre Mutter auseinandersetzen. Mit Rückblick auf das, was sie in den vergangenen paar Jahren erlebt hatte, wusste sie, daß es sinnlos war, seine Zeit mit Träumen und Wünschen zu vergeuden. Es gab keine Zauberei und märchenhafte Happy-Ends. Genausowenig wie Geister.
Als wollte er sich über sie lustig machen, tauchte Terence Bretton vor ihrem inneren Auge auf. Jener gutaussehende, lächelnde Terence, dem sie damals in einem Café außerhalb des Universitätsgeländes in Berkeley begegnet war. Es war ihr erstes Jahr im College gewesen, und sie hatte, gefördert durch ein Stipendium, pflichteifrig klassische Musik studiert und gehorsam an der Karriere als Opernsängerin gearbeitet, auf die ihre Mutter sie. ihr ganzes Leben lang vorbereitet hatte. Für ein Mädchen, dessen behütetes, durchorganisiertes Leben aus Singstunden, Üben und Studieren bestand, war Terence wie eine Offenbarung gewesen. Terence mit seinem entwaffnenden schiefen Lächeln und seinen funkelnden grünen Augen. Terence mit den großen Träumen, aber ohne, den Ehrgeiz, sie zu verwirklichen.
Doch das hatte sie damals nicht geahnt, dachte Rachel mit einem wehmütigen Lächeln. Sie hatte sich in Terence mit seinem Charme und seinen Träumen und seiner ehrlichen, unausgebildeten Stimme verliebt. Er hatte ihr seine Liebe und die Freiheit angeboten, und sie hatte beides begeistert angenommen.
Anfangs hatte ihre Zuneigung zu ihm auf Berechnung beruht. Rachel wusste genau, daß Terence, der Liedermacher, der wie ein Zigeuner durchs Land zog,
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