Rätselhafte Umarmung
Aus ihren Augen loderte Zorn über das Benehmen des Deputys. »Möchten Sie meinen Ausweis sehen?«
»Schon gut.« Er stopfte das Notizbuch zurück in die Brusttasche. »Ich hätte wissen müssen, daß ich wieder mal meine wertvolle Zeit verschwende. Letzten Monat hat sie mich kommen lassen, weil sie meinte, daß ein russisches U-Boot vor ihrem Haus gestrandet sei. Und davor sollte sie angeblich von einer obskuren Sekte entführt werden. Ich habe wirklich Besseres zu tun.«
»Na dann«, mischte sich Bryan mit einer Freundlichkeit ein, die gar nicht zu dem zornigen Flackern in seinen Augen passt e, »werden wir nächstes Jahr ein paar Dollar Steuern mehr zahlen, um das wieder wettzumachen.« Er folgte dem Deputy in den Flur und deutete zur Eingangstür. »Ich würde Sie ja bis zur Tür bringen, aber ich muss den Toast machen.«
»Hippie«, knurrte Skreawupp und walzte davon. Plötzlich drehte er sich um und deutete mit dem Finger auf Bryan. »Ich behalte Sie im Auge, Freundchen.«
Rachel drängte an beiden vorbei und stakste steif durch den Flur, entschlossen, sich durch das Labyrinth von Zimmern bis zur Küche vorzuarbeiten. Sie entdeckte Zimmer voller verstaubter alter Möbel und ein Zimmer voller alter Kirchbänke, die wie Klafterholz aufeinandergestapelt waren. Schließlich öffnete sie die richtige Tür.
Einst war die Küche sonnengelb gestrichen gewesen, aber die Farbe war im Laufe der Jahre zu einem schmuddeligen Elfenbeinton nachgedunkelt. Es war ein riesiger Raum mit schwarzweißen Bodenfliesen und einer Ansammlung übergroßer Küchengeräte, zu denen auch ein altmodischer Holzofen gehörte, den man offenbar nur zu dekorativen Zwecken stehen gelassen hatte. Vor dem Fenster stand ein Eichentisch, der unvollständig mit willkürlich zusammengestelltem Geschirr gedeckt war. Addie saß kerzengerade auf ihrem Platz und hatte die Hände im Schoss ihres geblümten Baumwollhauskleides gefaltet. Sie schaute nicht einmal auf, als Rachel eintrat.
»Mutter, wir müssen miteinander reden.« Rachel hatte die Zähne zusammengebissen.
»Ich will nicht mit dir reden. Wo bleibt Hennessy? Ich will meinen Toast.«
Rachel zog den Stuhl neben Addies unter dem Tisch hervor und setzte sich. Sie nahm sich so gut sie konnte zusammen. Sie hatte gelesen, daß Menschen mit der Alzheimer Krankheit sich manchmal wie ihre Mutter verhielten, aber wie sich herausstellte, ließ sich die Lektüre eines Sachbuches keineswegs mit dem wirklichen Leben vergleichen. Theoretisch wusste sie, daß Addies Verhalten auf ihre Krankheit zurückzuführen war. Rational war ihr klar, daß ihre Mutter zu einer Manipulation wahrscheinlich gar nicht fähig war, weil das klares Denken und sorgfältige Planung voraussetzte und weil Addie diese beiden Fähigkeiten verlor.
Aber emotional fühlte sie sich verletzt, gedemütigt und wütend. Rachel verübelte es ihrer Mutter, wie sie sie seit ihrer Ankunft behandelte. Sie fühlte sich manipuliert, weil Addie einst unschlagbar in dieser Beziehung gewesen war. Addie hatte sie schließlich mit ihren Machenschaften auseinandergebracht. Das konnte Rachel nicht so leicht vergessen, jetzt, wo Deputy Skreawupps Wagen die Einfahrt herunterrollte.
»Mutter«, wiederholte Rachel. Sie gab sich Mühe, ruhig zu sprechen, damit sie nicht wieder eine so katastrophale Reaktion auslöste wie die am Abend zuvor. »Ich bin Rachel, deine Tochter.«
Addie sah sie an, und die Brauen über ihren kühlen, blauen Augen zogen sich verärgert zusammen. »Natürlich weiß ich, wer du bist.«
Das war ihre Standardantwort, wenn sie versuchte, eine Erinnerungslücke zu überspielen, aber diesmal war es die Wahrheit. Vorhin, als sie Rachel oben im Flur gesehen hatte, hatte sie ihre Tochter nicht erkannt. Jetzt schämte sie sich dafür, daß sie die Polizei gerufen hatte, aber was passiert war, ließ sich nicht mehr ändern. Sie schloss die Augen und wandte sich ab.
»Mutter, ich weiß, daß du Krank bist. Ich bin hergekommen, um dir zu helfen.«
»Ich bin in letzter Zeit ein bisschen vergesslich , weiter nichts. Ich brauche keine Hilfe.«
»Brauchst du überhaupt keine Hilfe, oder brauchst du meine Hilfe nicht?« Rachel spürte, wie ihr Zorn langsam überzuschäumen drohte. Sie konnte sich gerade noch beherrschen, aber ihrer Stimme war anzuhören, welche Anstrengung sie das kostete. »Können wir die Vergangenheit nicht hinter uns lassen und uns gemeinsam der Zukunft stellen?«
Die Vergangenheit. Addie sah ihre Tochter lange und
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