Rätselhafte Umarmung
unversöhnlich an. Die Lücken ihrer Vergangenheit wurden täglich größer, aber an den Streit vor Rachels Abreise aus Berkeley konnte sie sich noch Wort für Wort erinnern. »Du hast mich allein gelassen. Du hast alles aufgegeben, wofür wir so hart gearbeitet hatten.«
»Du hast mich rausgeworfen!« schoss Rachel ohne nachzudenken zurück. Die Schmerzen, das Leid, die Verbitterung waren immer noch da, lauerten dicht unter der Oberfläche. Der einzige Unterschied zwischen ihr und ihrer Mutter war, daß sie ihre Gefühle noch unter Kontrolle hatte.
Rachel atmete langsam und unsicher ein und stemmte sich von ihrem Stuhl hoch. Das Toastbrot stand auf der Anrichte. Methodisch löste sie den Gummiring und holte ein paar Scheiben aus der Plastiktüte.
»Wir werden heute zu Dr. Moore gehen.«
Addie verzog das Gesicht. »Dieser Trottel. Ich will nichts mit ihm zu tun haben.«
Mit zitternder Hand steckte Rachel zwei Scheiben Brot in den Toaster. Sie stand so kurz vor dem Explodieren, daß sie innerlich und äußerlich bebte. »Wir gehen.«
»Du kannst mir gar nichts vorschreiben«, widersprach Addie. Betont langsam erhob sie sich von ihrem Stuhl und schob ihn zurück.
Rote Flecken waren auf ihre weißen Wangen getreten. Ihre Tochter versuchte also, sie um ihre Unabhängigkeit zu bringen. Nun, sie würde das nicht kampflos hinnehmen! Sie würde es überhaupt nicht hinnehmen! Daß sie älter und ein bisschen vergesslich wurde, gab Rachel noch lange nicht das Recht, in ihr Leben zu platzen und das Kommando zu übernehmen. »Für wen hältst du dich eigentlich? Kommst nach all den Jahren wieder und glaubst, du brauchst alles bloß an dich zu reißen, wie? Dahinter steckt dieser Terence, stimmt's? Dieses nichtsnutzige, jämmerliche kleine Frettchen.«
»Terence hat nichts damit zu tun, Mutter«, antwortete Rachel leise, weil ihr der Zorn langsam die Kehle zuschnürte.
Ein triumphierendes Leuchten trat in Addies Augen. »Das ist seit Jahren das erste Vernünftige, was ich von dir höre. Ich habe dich davor gewarnt. Ich hab' ja gleich gesagt -«
Plötzlich flog die Küchentür auf, und Bryan tanzte herein, »I've Got a Crush on You« singend. Offenbar ohne die gespannte Atmosphäre im Raum wahrzunehmen, packte er Addie, wirbelte sie singend durch die Küche. Er übertrieb gnadenlos. Addie errötete wie ein junges Mädchen und begann zu kichern. Augenblicklich löste sich ihr Ärger in nichts auf.
»Hennessy, Sie alter Ganove«, schnaufte sie und holte im Spaß mit der Hand aus, als er sie bei ihrem Stuhl losließ und dann alleine weitertanzte, »Sie wissen wirklich nicht, was Anstand ist.«
Bryan blieb mitten in der Küche stehen, räusperte sich und begann zu rezitieren: »Anstand: Übereinstimmung mit den Erfordernissen des guten Geschmacks oder sozialen Übereinkünften; Angemessenheit in Betragen, Kleidung etc.; Ziemlichkeit.«
»Hast du irgendwas davon begriffen, Rachel?« fragte Addie trocken.
Rachel knallte das Buttermesser auf die Anrichte. »Dein Toast ist fertig.«
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»Hennessy macht meinen Toast. Deinen esse ich nicht. Wahrscheinlich willst du mich vergiften.«
»Der Gedanke ist mir tatsächlich gekommen«, murmelte Rachel vor sich hin und bekam sofort ein schlechtes Gewissen, obwohl niemand die Bemerkung gehört hatte und sie es auch nicht ernst gemeint hatte.
»Lassen Sie mich das machen«, flüsterte ihr Bryan ins Ohr, der zu ihr gekommen war und den Teller mit Toast von der Anrichte nehmen wollte.
»Nein«, widersprach Rachel energisch. Sie riss ihm den Teller wieder aus der Hand und schleuderte dabei fast das Brot auf den Boden.
Die Tatsache, daß Bryan, ein Außenseiter, besser mit Addie zurechtkam als sie, war wie Salz auf ihre offenen Wunden. Und es war ein weiterer Grund, weshalb er nicht bleiben konnte. Sie und Addie mussten eine Menge aufarbeiten oder wenigstens lernen, ihre neuen Rollen zu akzeptieren. Nicht Bryan Hennessy, sondern sie würde sich um ihre Mutter kümmern. Denn ihr war klar, daß Männer wie Bryan Hennessy den Schwanz einzogen, sobald es ungemütlich wurde.
Er war Terence hoch zwei - ein Träumer, ein Rumtreiber, ein Mann, der mit einem idiotischen Grinsen im Gesicht die Wirklichkeit ignorierte. Plötzlich wurde ihr der Vergleich zuviel und verstärkte ihr Bedürfnis, für Addie zu sorgen.
»Nein. Ich brauche Sie nicht. Wir brauchen Sie nicht«, erklärte sie und funkelte ihn böse an. »Scheren Sie sich weg, mitsamt ihren blöden Kartentricks und Ihren blöden
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