Rain Song
seine Fragen gegeben. Die Gewissheit, dass das Meer sein Volk schützte, war in seinem Blut. Vor langer Zeit hatte der Geist des Meeres den Makah ein Versprechen gegeben. Dieses Versprechen war mit dem Blut der Ahnen weitergegeben worden: Der Pazifik wird das Volk der Makah niemals hungern lassen.
Der Wind trieb die dunklen Regenwolken zum Horizont. Greg bewegte sich sicher in der zunehmenden Dunkelheit. Er kannte dieses Stück Strand besser als sich selbst. Obwohl der Strandstreifen jedes Jahr ein Stück erodierte, das Meer während der Stürme in Herbst und Winter einen Teil des Festlandes mit sich riss, richtete Greg sich auf die neuen Wege und Zugänge ein. Die Zeit stand niemals still und nichts blieb, wie es war. Auch er selbst nicht.
Nur der Schmerz bleibt.
Jedenfalls war er jetzt wieder da. Genauso heftig wie zu der Zeit, als Jim nicht mehr aus Deutschland zurückkehrte und Gregs Leben völlig aus den Fugen geriet. Er verlor seine Liebe. Eine Liebe, die ihn so vollkommen erfüllt hatte, dass er noch jetzt manchmal von körperlichen Lähmungen befallen wurde, wenn er nur an Jeramie Yazzie dachte.
Aber Erinnerungen waren der stetigen Erosion des Gedächtnisses ausgesetzt. Im Laufe der Jahre verdrängte und beschönigte man und rückte sich alles so zurecht, wie man es brauchte, um eine Rechtfertigung für sein Leben zu haben.
Wie war es möglich gewesen, dass er immer weitergemacht hatte, obwohl so vieles fehlte?
Greg war nicht begeistert über Hannas Auftauchen in Neah Bay, doch ihre Anwesenheit hatte etwas in Bewegung gesetzt. Mit einem Mal hatte er wieder vollkommen klare Bilder von Jim vor Augen. Er war ein Narr gewesen, weil er jahrelang versucht hatte, seine Zweifel zu hintergehen. Jims Verschwinden hatte ihn zu sehr verletzt, die Folgen waren zu bitter gewesen, als dass er je nach ihm gesucht hätte. Nie war es ihm in den Sinn gekommen, dass alles anders sein könnte, als er es sich zurechtgelegt hatte. Greg war wie alle Menschen: Er glaubte, was er glauben wollte.
Ich habe die Wahrheit verdrängt.
Warum war er nicht imstande gewesen, sich einzugestehen, dass Jim ein ganz anderer Mensch sein könnte als der, für den er ihn hielt?
Die Nacht war schwarz und aufgewühlt. Greg fuhr sich mit der Hand über die Augen. Der frische Wind, der die Bäume beutelte, riss an seinen Haaren. Eine dunkle Wolke verbarg den halben Mond. Greg wich einem großen Haufen Treibholz aus. Seine Füße fanden die vertrauten Trittstellen, ohne dass er sich auf den Weg konzentrieren musste. Ein dumpfer Druck in der Brust nahm ihm den Atem. Alles, was er fühlte, war Schmerz – körperlich gewordene Erinnerungen. Dieser schwarze Wind riss auch manchmal die Seelen der Menschen an sich und hängte sie oben an die Wolken, bis sie ein Band aus Trauer und Sehnsucht ergaben.
Er brauchte Zeit, um über alles nachzudenken. Darüber, dass er der deutschen Frau das Leben gerettet hatte und dass sie hier, in seinem Haus gewesen war. Dass es ein kleines Mädchen mit heller Haut und Jims dunklen Augen gab. Dass Jim Deutschland den Rücken gekehrt hatte, um hierher nach Neah Bay zurückzukehren.
Wo er allerdings nie angekommen war.
Wo bist du, Jim?
Ein warmer Tränenstrom lief über Gregs Gesicht. Die Tränen kamen aus den Tiefen seines Unterbewusstseins. Er träumte von der Umarmung seiner Mutter, ihrem warmen Geruch, ihrem glucksenden Lachen. Sie hatte immer einen Weg gewusst. In ihrer Nähe hatte er sich stets sicher und geborgen gefühlt. Bis sie gestorben war und ihn mit seinem mürrischen und fordernden Vater allein gelassen hatte.
Auch Jim hatte ihn allein gelassen. Er war einer weißen Frau auf einen anderen Kontinent gefolgt und hatte ihm die ganze Verantwortung aufgebürdet. Jeramie Yazzie, Navajo-Indianerin und Liebe seines Lebens, war nach dem Studium in ihre Heimat in Arizona zurückgekehrt. Sie hatte Greg geliebt, konnte jedoch ohne ihre Wüste nicht leben und wäre im feuchten, wechselhaften Klima der Nordwestküste eingegangen wie ein Kaktus im Sumpfgebiet.
Alle waren weggegangen und er hatte einfach weitergemacht. Bis jetzt. Bis Hanna aufgetaucht war, mit ihren kupferfarbenen Haaren und den meergrünen Augen, die plötzlich violett werden konnten. Unwillkürlich kam Greg die Geschichte von Kupferfrau in den Sinn, die Jim ihm einmal erzählt hatte.
Am Anfang der Zeit, als die Küste noch unbewohnt war, lebte nur eine Frau mit rotem Haar und grünen Augen dort – ganz allein mit ihrem uralten und doch
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