Rain Song
war nicht richtig wach und wollte es auch gar nicht werden. Noch immer spürte sie das erlösende Pochen in ihrem Leib, die wohlige Wärme nach dem Zusammensein mit Jim.
Und wie schon so oft wurde ihr klar, warum sie sich in den vergangenen Jahren nicht neu verliebt hatte. Jim Kachook hielt sie davon ab. Er war fortgegangen, aber etwas von ihm würde für immer bei ihr sein. Es hatte ihr den Weg zurück nach Neah Bay gewiesen und sie zuerst auf Greg Ahousat treffen lassen, den Mann, der Jim einen Bruder nannte. Hanna war davon überzeugt, dass das kein Zufall war.
Greg war der Schlüssel zu Jim. Sie musste ihn bitten, ihr zu helfen.
Hanna warf die Bettdecke zurück, sprang aus dem Bett und stellte sich unter die Dusche, um richtig wach zu werden. Sie zog sich an, bürstete sorgfältig ihr Haar, bis es glänzte, und nahm es im Nacken mit einem dicken Gummiband zusammen.
Als sie auf die Veranda trat, wurde ihr erst richtig klar, wie einsam das Haus stand und wie nah am Meer. Im Augenblick herrschte Ebbe, aber bei Flut erreichte das Wasser fast die Hütte. Sie sah es an der Gezeitenlinie, die von Muschelbergen und Tang gesäumt war. Die ferne Wasseroberfläche war beinahe glatt und spiegelte das Morgenlicht. Die Morgennebel hatten sich noch nicht verzogen, aber vielleicht würde heute die Sonne herauskommen.
Hanna schloss das Strandhaus ab und machte sich mit ihrem Chevy auf den Weg zum Sooes Beach. Sie überquerte die Holzbrücke, kam auf der anderen Seite des Flusses am Campingplatz vorbei und kurz darauf führte die asphaltierte Straße schon dicht am Strand entlang. Auf der linken Seite war sie von hohen Stämmen gesäumt, auf der rechten gab sie zwischen Bäumen und Büschen hin und wieder einen Blick auf die ferne Brandung frei.
Nach zehn Minuten erreichte sie die Abzweigung zu Ahousats Haus. Sie parkte neben Gregs Pick-up und sah auf die Uhr. Es war kurz vor acht, viel zu früh. Greg schlief mit Sicherheit noch. Hanna wollte ihn nicht wecken, also stieg sie die Stufen hinunter und lief den Pfad am Haus vorbei, der zum Strand führte. Ein kleiner Spaziergang vor dem Frühstück würde ihr guttun.
Nachdem Hanna den Pfad ein Stück gegangen war, drehte sie sich noch einmal um und ihr Blick fiel auf den Totempfahl. Sie betrachtete das Hauptwappen, den Wolf. Seine lang gezogene Schnauze mit der aufgewölbten Nase. Die spitzen Ohren und die schräg gestellten Augen. Die Augen waren für Jim immer von besonderer Bedeutung gewesen. Durch die Augen seiner Wappentiere sieht der Pfahl, hatte er ihr erklärt.
Hanna setzte ihren Weg zum Strand fort, lief über einen Streifen angehäufter, rund geschliffener Steine und passierte die Treibholzbarriere. Sie setzte sich auf einen der riesigen Stämme, die oberhalb des Strandes lagen und verhindern sollten, dass das Meer zu schnell zu viel vom Festland fraß.
Als die Sonne hervorkam, begann das nasse Schwemmholz zu dampfen. Es roch nach Seetang und in der Sonne getrockneten Steinen. Der unberührte Sandstrand wurde durch zwei kleine Rinnsale geteilt, die auf ihrem Weg zum Meer den Sand durchschnitten. Mit geschlossenen Augen lauschte Hanna auf die schwache Brandung, das ferne Atmen des Meeres. Wie einsam es hier war! Was für ein Land! Nirgendwo Menschen. Es hätte ihr Zuhause werden können. Vielleicht wäre sie hier glücklich geworden. Vielleicht.
Hanna hatte längst aufgehört, dem Land und den Makah die Schuld für Jims Verschwinden zu geben. Die Zeiten, als der Verlust sie wie ein Fieber quälte, waren vorbei. Ihre Wunden waren verheilt, und auch wenn Narben geblieben waren – sie war nicht hier, um sie erneut aufreißen zu lassen.
Alles, was sie wollte, war Klarheit. Eine plausible Geschichte für ihre Tochter, die anfing, Fragen zu stellen.
Vor ein paar Wochen war Ola aus dem Kindergarten wiedergekommen und hatte gefragt: »Warum habe ich keinen Papa? Alle haben einen.«
Da hatte Hanna ihrer Tochter den Wappenpfahl vor dem Museum gezeigt. »Den hat dein Vater geschnitzt«, hatte sie zu Ola gesagt. »Er ist ein großartiger Künstler.«
»Das glaube ich nicht«, hatte die Kleine geantwortet. »Dieses Ding ist viel größer als ein Mensch.«
»Man hat den Pfahl erst aufgestellt, als dein Vater ihn fertig bearbeitet hatte.«
»Hast du ihm dabei zugesehen?«
»Ja, das habe ich.«
»Aber woher weißt du so genau, dass er mein Vater ist?«
»Weil du genauso aussiehst wie er«, hatte Hanna ihrer Tochter geantwortet.
Damit hatten die Fragen begonnen. Wer ist
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