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Rain Song

Rain Song

Titel: Rain Song Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Antje Babendererde
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er? Wo lebt er? Kennt er mich?
    Schritte auf den Kieseln rissen Hanna aus ihren Gedanken. Greg kam auf sie zu. »Guten Morgen«, sagte er mit einem undurchschaubaren Lächeln und setzte sich neben sie.
    Zaghaft lächelte sie zurück. »Guten Morgen, Greg.«
    »Gut geschlafen?«
    »Ja, bestens.«
    »Keine Angst gehabt, so allein?«
    »Nein, sollte ich?«
    »Nein.« Greg schüttelte den Kopf und blickte auf das Meer hinaus. Ihm schienen auf einmal die Worte ausgegangen zu sein. Eine Weile sagte keiner von beiden etwas. Nur das sanfte Rauschen der Brandung war zu hören und die entfernten Schreie der Seemöwen, die sich auf ihre Beute stürzten.
    »Woran hast du gedacht, bevor ich gekommen bin?«, fragte er schließlich und sah sie von der Seite an.
    »An meine Tochter.«
    »Wo ist sie jetzt?«
    »Meine Eltern kümmern sich um sie«, antwortete Hanna. Sie dachte an die endlosen Streitereien, die sie mit ihren Eltern wegen Jim gehabt hatte. »Das heißt, wenn es nach meinem Vater gegangen wäre, dann wäre ich jetzt gar nicht hier. Meine Eltern hatten von Anfang an Probleme mit meiner Beziehung zu Jim. Der Gedanke, mich so weit weg zu wissen, unter fremden Menschen in einer fremden Kultur, gefiel ihnen überhaupt nicht.«
    »Hast du keine Geschwister?«
    »Nein. Das ist es ja. Die einzige Tochter zu sein, ist eine schwierige Aufgabe. Alle Erwartungen konzentrieren sich nur auf dich.« Hanna zog ihre Knie an ihren Körper heran und umschlang die Beine mit den Armen. »Meine Eltern blieben Jim gegenüber misstrauisch bis zum letzten Tag. Und später demonstrierten sie mir immer wieder, dass sie recht behalten hatten. Das tat weh, und wenn ich ehrlich sein soll, habe ich es ihnen bis heute nicht verziehen.«
    »Aber sie kümmern sich um deine Tochter.«
    »Ja. Meine Mutter hat sich gegen meinen Vater durchgesetzt. Sie hat zugestimmt, Ola zu betreuen, während ich weg bin. Das Geld für den Flug habe ich mir zusammengespart.«
    »Arbeitest du immer noch für das Museum?«, fragte Greg und wandte den Blick wieder zum Horizont.
    »Ja.« Sie nickte.
    »Was genau tust du eigentlich, wenn du nicht gerade auf der Suche nach einem Holzschnitzer bist?«
    Hanna lächelte. Immerhin, er interessierte sich für sie, das war ein Anfang. »Ich bin Restauratorin und seit einigen Jahren auch für die Organisation und den Aufbau von Sonderausstellungen verantwortlich. Damals, als das Museum mich hierherschickte, um nach einem Schnitzkünstler zu suchen, begann vier Wochen später eine Ausstellung über die Kultur der Nordwestküstenindianer. Die Exponate sollten den Besuchern die Vergangenheit zeigen. Und Jim, der an seinem Pfahl arbeitete, sollte der lebendige Beweis dafür sein, dass die Kultur bis heute überlebt hat.«
    Greg holte tief Luft und schüttelte unmerklich den Kopf. »Es ist mir immer noch unbegreiflich, dass Jim …«, er stockte auf einmal, als bereute er es, den Satz angefangen zu haben.
    »Dass Jim was?«
    »Versteh mich nicht falsch, Hanna, aber es passte überhaupt nicht zu ihm, dass er sich ausgerechnet in eine weiße Frau verliebt haben soll, eine, die noch dazu in einem Völkerkundemuseum arbeitet. Jim war Traditionalist, ein strenger Verfechter der alten Werte. Deshalb verstand er sich auch so gut mit meinem Vater.«
    Seine Worte versetzten Hanna einen Stich. Ihre Kehle wurde eng und sie schluckte. »Ist es wirklich so abwegig, dass Jim mich mochte – all seinen Traditionen zum Trotz?« Sie sah auf und suchte nach einer Antwort in Gregs Miene.
    »Ich verstehe es einfach nicht«, antwortete er. »Vielleicht kanntest du ja einen anderen Jim als ich.«
    Seufzend nickte sie. Manchmal kam ihr die Zeit mit Jim selbst wie ein Märchen vor. Aber er hatte sie geliebt, so viel wusste sie, und dieses Wissen würde sie sich auch nicht nehmen lassen.
    »Jim war manchmal wie ein Kind«, sagte sie traurig. »Er suchte ständig meine Nähe, als könne er nicht atmen, wenn ich nicht bei ihm war. Er war sehr besitzergreifend. Zu Anfang fiel mir das gar nicht auf, weil ich so verliebt war und auch nichts anderes wollte, als mit ihm zusammen zu sein. Aber nach ein paar Wochen wurde es schlimmer. Er redete kaum noch mit anderen. Mit seinem Schweigen und seiner finsteren Miene vergraulte er meine Freunde. Sie glaubten, er wäre verrückt. Bald hatte ich niemanden mehr, nur noch ihn.«
    Greg schüttelte ungläubig den Kopf, als würde das alles keinen Sinn für ihn ergeben. »Wenn ich dir so zuhöre«, sagte er, »dann scheint es immer

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