Rain Song
mehr, als würden wir nicht von ein und demselben Menschen reden.«
Hanna sah ihn an und stellte ihre Frage so vorsichtig wie möglich: »Warum hat Jim nie etwas von dir erzählt, Greg?«
Die Tatsache, dass Jim ihr Gregs Existenz verschwiegen hatte, verstärkte Hannas Zweifel, dass er tatsächlich vorgehabt hatte, sie nach Neah Bay zu holen. Wie hätte er ihr das alles erklären sollen?
Greg griff nach einem Stein, der im Wurzelgeflecht des Baumriesen steckte, wog ihn in der Hand und schleuderte ihn über den Strand. »Ich weiß es nicht, Hanna, aber es tut verdammt weh. Schließlich haben wir zehn Jahre unseres Lebens wie Brüder miteinander verbracht.« Nachdenklich ließ er seine flache Hand über das samtige Holz des Stammes gleiten. »Ich erinnere mich noch sehr genau an den Tag, an dem Jim Kachook nach Neah Bay kam. Ich vermute, auch davon hat er dir nichts erzählt, oder?«
»Nein.«
Erst hatte Hanna das Gefühl, als wolle Greg seine Erinnerung für sich behalten. Aber nach einer Weile begann er doch zu erzählen.
»Damals fuhr ich mit einem Holzkahn aufs Meer, um zu fischen. Ich war erst zehn, aber mein Vater hatte mir erlaubt, allein rauszufahren, denn ich hatte ihn davon überzeugt, dass ich das Boot beherrschte. Ein Sturm zog auf und ich merkte es nicht, weil ich mit einem riesigen Heilbutt beschäftigt war, dem größten Fang meines Lebens. Ich kam nicht schnell genug wieder an Land, verlor die Gewalt über das kleine Boot und kenterte. Die Wellen schleuderten mich wie einen Ball über die Schaumkronen. Immer wieder wurde ich unter Wasser gezogen und kämpfte mich nach oben, bis mich meine Kräfte verließen. Ich verlor das Bewusstsein, und als ich aufwachte, lag ich auf dem Trocknen und jemand blies mir seinen warmen Atem in die Lungen. Ein fremder Junge hockte über mir.«
Greg lächelte kurz, starrte aber gleich darauf wieder vor sich hin. Hanna sah ihn von der Seite an und lauschte dem gleichmäßigen Fluss seiner Stimme.
»Ich weiß noch, dass sein Anblick mich zu Tode erschreckte. Er hatte Tang in den Haaren, triefte vor Nässe und bedachte mich mit einem wilden Blick. Für einen Moment glaubte ich, in die Fänge eines Meeresungeheuers geraten zu sein. Aber dann begann er zu sprechen. Er hatte mich aus dem Wasser gefischt. Er sagte, sein Name wäre Jim und er käme von drüben, aus Kanada. Das Boot seines Vaters war im Sturm gekentert, so wie meines. Ich fragte ihn nach seinem Vater, aber Jim schüttelte nur stumm den Kopf. Nur er hatte sich retten können.«
Gregs Gesichtsausdruck ließ keinen Zweifel daran, dass er alles genau vor Augen hatte, was er Hanna erzählte.
»Ich erinnere mich, dass ich damals nicht verstehen konnte, warum Jim nicht um seinen Vater weinte. Vielleicht war er ja schon zu alt für Tränen. Er war fünfzehn, sah aber aus wie siebzehn.«
»Und dann? Was geschah dann?«, fragte Hanna.
»Wir waren am Fuße der Klippen von Tatoosh Island gestrandet. Mein linker Knöchel schmerzte höllisch. Ich konnte nicht laufen und auch nicht mit Jim an Land schwimmen, nachdem der Sturm nachgelassen hatte.«
»Humpelst du deswegen manchmal?«, fragte Hanna.
»Ja. Der Knöchel war gebrochen und ist schlecht verheilt. Wenn das Wetter sich ändert, spüre ich das.«
Greg schwieg und Hanna bereute, ihn mit ihrer Frage in seiner Geschichte unterbrochen zu haben.
»Jim schwamm also zum Festland«, sagte sie.
Er nickte. »Ja. Mein Vater suchte schon nach mir und die beiden holten mich von der Insel. Ich musste ein paar Tage nach Port Angeles ins Krankenhaus, wo sie meinen Knöchel richteten. Jim bestieg die Fähre nach Vancouver Island. Aber als ich nach Hause zurückkam, war er wieder da. Ich war so froh, nicht mehr mit meinem Vater allein sein zu müssen, dass ich keine Fragen stellte.
Jim machte sich nützlich, war begierig darauf, das Schnitzen zu lernen. Er konnte unsere alte Sprache sprechen, was meinem Vater ungeheuer imponierte. Jim gehört zu den Nuu-cha-nulth, unseren engsten Stammesverwandten, die drüben an der Westküste von Vancouver Island leben, aber das weißt du ja sicher.«
Hanna sagte nichts, denn auch davon hatte sie nichts gewusst. Aber nun wusste sie wenigstens, wo sie nach ihm suchen sollte.
»Das Meer gab Jims Vater nicht wieder frei. Er erzählte uns, dass seine Mutter bei seiner Geburt gestorben war und er keine Verwandten hätte. So wurde er der zweite Sohn von Matthew Ahousat und ich bekam einen großen Bruder, den ich lieben und verehren
Weitere Kostenlose Bücher