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Rain Song

Rain Song

Titel: Rain Song Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Antje Babendererde
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vor, dort ein neues Haus zu bauen.«
    Nur mit Mühe gelang es Hanna, ihre Tränen zurückzuhalten, während eine Mischung aus Zorn und Verzweiflung durch ihre Adern strömte. »Und Sie haben nie jemandem von Jims Plänen erzählt?«, fragte sie mit belegter Stimme. »Auch Greg oder seinem Vater nicht?«
    »Nein.« Gertrude schüttelte den Kopf mit den kleinen grauen Locken.
    »Aber warum nicht? Sie wussten doch, dass beide nach ihm suchten.«
    »Niemand suchte nach ihm.« Gertrudes runzliges Gesicht war völlig ausdruckslos. »Außerdem hatte Jim mich darum gebeten, es nicht zu tun.«
    Hanna schlang die Arme um ihren Körper und wiegte sich vor und zurück. »Wir wollten heiraten«, sagte sie und nun rannen die Tränen haltlos über ihre Wangen. »Aber dann ist er hierher zurückgeflogen und ich habe nie wieder etwas von ihm gehört.«
    Gertrudes Hände mit den arthritischen Gelenken klaubten die Fotos und Karten rasch wieder zusammen und verbannten sie in die Kiste. »Du bist kein schlechter Mensch«, sagte sie, »und persönlich habe ich auch nichts gegen dich. Aber …«
    Ein dicker Kloß wuchs in Hannas Hals und sie schluckte. Was würde jetzt kommen?
    Die alte Indianerin holte tief Luft. ». . . es ist nicht gut, wenn unsere Männer mit weißen Frauen zusammen sind«, vollendete sie den Satz. »Kinder werden geboren, die weder das eine noch das andere sind. Das ist nicht gut«, wiederholte sie. »Es schwächt unser Volk.«
    Hanna wusste nicht, was sie sagen sollte. Mit dem Handrücken wischte sie die Tränen aus ihrem Gesicht. Der Kloß in ihrem Hals war so dick, dass sie kaum noch atmen konnte. »Aber … warum lassen Sie mich dann in der Strandhütte wohnen?«, fragte sie mit wachsender Verwunderung. »Warum erzählen Sie mir das alles über Jim, wenn Sie doch verurteilen, was wir vorhatten?«
    Gertrude zuckte mit den Schultern. »Das hat nichts mit dir und Jim zu tun, sondern mit Greg«, sagte sie. Sie schob das Kästchen in sein Fach zurück und verschloss die Schranktür.
    Hanna brauchte noch einen Moment, doch auf einmal begriff sie: Dadurch, dass sie im Strandhaus wohnte, war sie aus Neah Bay verbannt worden und gleichzeitig leicht zu kontrollieren. Grace hatte versucht, ihr mit der Wilden Frau aus dem Wald Angst einzujagen. Steckten die drei etwa unter einer Decke?
    Hannas Hände zitterten wie die Halme des Sitca-Grases, aus denen das unfertige Körbchen auf ihrem Schoß bestand. Ein unmittelbarer und heftiger Ärger machte sich in ihrer Brust breit.
    »Wieso dulden Sie mich in Ihrem Haus und machen sich die Mühe, mir Flechttechniken zu zeigen, wenn Sie mich doch am liebsten aus dem Ort jagen würden?«, brachte sie mühsam hervor.
    Gertrude wiegte den Kopf hin und her. »Ich war nie dagegen, Weiße von uns lernen zu lassen. Ihr habt noch eine Menge zu lernen, oder nicht?«
    »Aber selbst wenn wir aufmerksame Schüler sind, macht uns das nicht zu besseren Menschen, nicht wahr?« Hanna gab sich keine Mühe mehr, ihre Enttäuschung zu verbergen.
    »Weiß bleibt weiß.« Gertrude setzte sich wieder an ihre Arbeit.
    Hanna spürte brennende, hilflose Wut in sich aufsteigen. Das Verlangen, diesem Haus zu entfliehen, wurde übermächtig.
    »Was ist mit Ola, meiner Tochter?«, fragte sie. »Jims Tochter? Sie hat Makah-Blut in den Adern.«
    Gertrude, sie hatte den Blick starr auf ihre Arbeit gerichtet, schüttelte den Kopf.
    Hanna sprang von ihrem Stuhl auf und der unfertige Korb fiel zu Boden. Sie riss ihren Rucksack an sich und hastete aus dem Zimmer, durch den vollgestellten Flur nach draußen ins Freie. Mit hämmerndem Herzen irrte sie durch die windgepeitschten Straßen von Neah Bay. Ein streunender Hund heftete sich an ihre Fersen, ein einsames, mageres Tier, das sich vermutlich ebenso abgewiesen fühlte wie sie. Das Chaos in Hannas Kopf machte jeden vernünftigen Gedanken zunichte. Sie lief an einer Gruppe Jugendlicher vorbei, die vor dem Supermarkt standen. In ihren Gesichtern erkannte sie Langeweile, gepaart mit Neugier und Ablehnung.
    Sie fragen sich auch, was ich hier verloren habe.
    Hanna zog die Kapuze über ihren Kopf und lief schnell weiter, irgendwohin, nirgendwohin – und doch von einem inneren Kompass in Richtung Holzwerkstatt gezogen.
    Gegen halb drei begann Greg, sich Sorgen zu machen, wo Hanna blieb. Er beendete seine Arbeit am Pfahl und fuhr zur Autowerkstatt. Hannas Wagen stand auf der Rampe und Henry und ein zweiter Mann arbeiteten daran.
    »Der Auspuff ist gekommen«, sagte Henry.

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