Rain Song
frischer Wind wehte Annie das Haar in die dunklen Augen, die auf eine Antwort warteten. Zweifellos war sie eine sehr schöne Frau. Vielleicht war das sogar der Grund, warum sie noch nicht verheiratet war: Die meisten Makah-Männer scheuten sich davor, mit einer Frau verheiratet zu sein, die immer die Blicke anderer auf sich ziehen würde.
Für Greg war Annies Schönheit weder ein Grund, sie zu heiraten, noch, es nicht zu tun. Er respektierte sie, aber das war alles. Die seltsame Kälte, die von ihrer Seele auszugehen schien, ließ ihn frieren, wenn er nur in ihrer Nähe war.
Schließlich stemmte er die Hände in die Hüften und sagte: »Ja, Annie, ich werde kommen.«
Ein freudiger Schimmer erhellte Annies Gesicht.
»Aber nur, wenn ich jemanden mitbringen kann«, fügte Greg hinzu.
Röte stieg ihr in die Wangen. »Tu, was du nicht lassen kannst«, sagte sie, drehte sich um und stieg in den Pick-up.
Greg sah ihr nach, wie sie den Truck vom Hof lenkte, und wandte sich wieder der Arbeit an seinem Pfahl zu.
14. Kapitel
Hanna saß in dem nach Zedernrinde duftenden Wohnzimmer der Allabushs und arbeitete an einem kleinen Körbchen mit einer Kette aus Fichtenwurzeln. Die Technik nannte sich Zwirnbindung und Hanna, die einmal bei einem Korbflechter gearbeitet hatte, stellte sich nicht ungeschickt an.
Grace hatte sie sofort ins Haus gezogen, als sie mit vom Wind zerzausten Haaren vor der Tür gestanden hatte.
Während ihre Finger sich mit dem ungewohnten Material mühten, spürte Hanna Gertrude Allabushs Blick auf sich ruhen. Sie hatte vor der alten Frau ganz offen zugegeben, dass sie noch einmal wegen Jim gekommen war, und Gertrude hatte sie, entgegen ihren Befürchtungen, nicht vor die Tür gesetzt. Aber bisher hatte sie ihr auch nichts über Jim erzählt.
Hanna platzte bald vor Ungeduld, aber sie zwang sich, keine Fragen zu stellen. Wenn Gertrude bereit war, ihr Antworten zu geben, würde sie es tun, so viel hatte sie inzwischen gelernt.
Sie hob den Kopf und musterte Grace, die still an ihrem Walfängerhut arbeitete. Das Mädchen sah müde aus und unter ihren Augen lagen Schatten. Aber wenn Grace aufblickte, dann entdeckte Hanna eine Veränderung in ihrem Gesicht. Als ob sie heute etwas wusste, von dem sie gestern noch keine Ahnung gehabt hatte. Grace strahlte mit einem Mal eine seltsame Art von Würde aus.
Schließlich blickte das Mädchen auf die Uhr, legte den Hut beiseite und sagte: »Zeit für die Post, Granny. Soll ich noch etwas einkaufen?«
»Nein«, erwiderte Gertrude, »wir haben alles. Sag Ellie einen schönen Gruß von mir.«
»Mach ich.« Grace nickte Hanna zu und verschwand nach draußen.
Als ob sie nur darauf gewartete hätte, stand Gertrude auf und ging zu dem niedrigen Schrank, auf dem allerhand Krimskrams lag. Sie schloss die Schranktür auf und holte aus dem obersten Fach ein längliches Zedernholzkästchen hervor, das sie wie einen kostbaren Schatz vor sich hertrug.
»Jim hat mir dieses Kästchen geschenkt«, sagte sie zu Hanna und reichte es ihr. »Er hat es selbst gebaut.«
Hanna betrachtete das Kästchen von allen Seiten. Es war aus einem Stück Holz gefertigt wie die Kästchen im Museum, die sehr alt waren und aus einer Zeit stammten, als die Makah noch keine Nägel kannten.
»Was für eine schöne Arbeit«, sagte Hanna mit wild pochendem Herzen. Jims Hände hatten dieses Holz in den Händen gehabt und auf einmal war ihr, als könne sie ihn spüren, als würde sie die Verbindung zu ihm wieder aufnehmen.
Eilig nahm Gertrude ihr das Kästchen wieder ab, als ob es etwas von seiner Magie verlieren könnte, wenn Hanna es zu lange berührte.
»Jim hatte geschickte Hände«, sagte Gertrude. »Heute gibt es kaum noch jemanden in Neah Bay, der so eine Zedernkiste auf die alte Art bauen kann. Wozu auch, wo doch alles billig im Baumarkt zu haben ist. Nur selten entsteht noch etwas von Hand, deshalb haben wir vergessen, wie wertvoll die einfachen Dinge sind.« Sie öffnete das Kästchen und holte ein paar Postkarten und Fotos heraus.
Ein heftiger Stich durchfuhr Hannas Brust und ihr wurde abwechselnd heiß und kalt. Das waren Karten aus Deutschland! Fotos, die Jim mit ihr zusammen zeigten. Gertrude Allabush hatte also von Anfang an gewusst, wer sie war. Sie vermied es, der alten Frau in die Augen zu sehen.
»Jim hat uns ein paarmal geschrieben«, sagte die Indianerin. »Zuletzt kündigte er an, dass er zurückkommen würde. Er wollte das Land kaufen, auf dem mein altes Haus steht. Er hatte
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