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Rain Song

Rain Song

Titel: Rain Song
Autoren: Antje Babendererde
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nicht vorenthalten. Wenn sie nur die Hälfte über sich weiß, kann sie kein ganzer Mensch werden.«
    Hanna wischte sich mit dem Handrücken über die Augen. Was Greg sagte, entsprach der Wahrheit. Es war der Grund, warum sie hier war. Sie fürchtete sich vor dem Augenblick, in dem ihre Tochter sie fragen würde: »Wer war er, mein Vater?« – und sie ihr darauf keine Antwort geben konnte.
    »Wieso bist du mir nachgefahren, Greg? Woher wusstest du, wo du mich finden würdest?«
    Greg lächelte. »Das war nicht sonderlich schwer, oder? Du bist so leicht zu durchschauen. Zum Glück waren die ersten beiden Fähren voll. Ich hatte übrigens schon vor zwei Tagen ein Ticket für den heutigen Nachmittag bestellt.«
    »Ein Ticket für dich?«
    »Für uns beide.«
    »Du wusstest von Anfang an von der Insel, nicht wahr?«
    Greg senkte den Kopf.
    »Warum hast du mir das nicht gesagt?«
    Er zuckte mit den Achseln. »Vermutlich wollte ich, dass sich die Dinge nach Makah-Art entwickeln. Wir lernen durch Finden, nicht durch Suchen.« Er lachte in sich hinein. »Aber ich gebe es auf. Du hast gewonnen.«
    Hannas Kaffee wurde gebracht und Greg bestellte sich eine Cola und ein Sandwich. Hanna warf einen Blick aus dem Fenster und beobachtete ein paar Möwen, die die Fähre umkreisten und auf Leckerbissen warteten. Ihre weißen Vogelkörper leuchteten in der Sonne.
    Sie trank einen Schluck Kaffee. Er war heiß und stark. »Ich will Jim finden«, sagte sie, »das ist alles. Und du hast recht. Wenn Ola mich nach ihrem Vater fragt, dann brauche ich ein paar Antworten.«
    »Warum sagst du ihr nicht dasselbe, was du mir gesagt hast: dass du ihn wolltest und dir alles andere egal war?«
    »Es war mir nicht egal, Greg«, antwortete Hanna mit brüchiger Stimme. »Ich dachte immer, wenn wir erst zusammen in Neah Bay leben, dann würde ich mit der Zeit schon herausfinden, wer Jim wirklich ist. Ich hätte es jedenfalls versucht«, fügte sie leise hinzu.
    »Hanna«, sagte Greg und legte seinen Finger auf die Karte. »Wenn Jim dort irgendwo steckt, dann werden wir ihn finden, das verspreche ich dir.«
    Bill Lighthouse wartete auf dem Gang des Krankenhausflures, bis Daniel Hadlocks Frau und seine beiden Töchter das Zimmer verließen. Erst dann ging er hinein und setzte sich auf den Stuhl neben Hadlocks Bett. Behutsam holte er den in einen weichen Lappen gewickelten Pfahl aus seiner Tasche und stellte ihn auf den Nachtschrank.
    Wach wieder auf, Dan.
    Er lehnte sich zurück und betrachtete den bewusstlosen Ranger. Die Schnitte in Hadlocks Gesicht waren nur noch schwarze Striche, die Wunden heilten. Aber was war mit den Verletzungen der Seele? Dans Augen waren geschlossen. Bill fragte sich, was sich dahinter abspielte – im Kopf seins Freundes.
    Er legte seine Hand auf Hadlocks Arm. »Dan, wach auf! Ich bin es, Billy. Das mit den Geistern, das war ein Scherz. Ich wollte dir nur ein bisschen Angst einjagen.«
    Dans Gesicht blieb unverändert.
    »Hey, Danny, tu mir das nicht an«, sagte Bill mit rauer Stimme. »Woher kriege ich denn jetzt meinen Kaffee, wenn ich nach Ozette komme? Und mit wem soll ich reden?« Er seufzte. »Glaub mir, ich könnte jemand zum Reden gebrauchen. Der Holzschnitzer war mit einer weißen Frau auf dem Potlatch. So werde ich Tomita niemals bekommen.« Er rüttelte an Hadlocks Arm. »Wach schon auf, verdammt noch mal. Ich weiß, dass du dich nur versteckst.«
    Hatten sich Hadlocks Finger eben leicht bewegt? Oder täuschte er sich? Bill holte den Miniaturpfahl vom Nachttisch, nahm Dans Hand und schloss behutsam seine Finger um den Pfahl. »Hier«, sagte er, »ich habe dir etwas mitgebracht.« Er legte die Hand mit dem Pfahl auf die Brust des Rangers. »Dieses Ding hat Macht, mein Freund. Es kann Geister fernhalten und Wünsche wahr werden lassen. Versuch es einfach. Mach die Augen auf. Alles, was du siehst, wird dein Freund Billy Lighthouse sein.«
    Hadlocks Lider flatterten kurz, doch mehr passierte nicht.
    Der Sheriff rieb sich das Gesicht mit beiden Händen und fuhr sich durch die Haare. Es war das erste Mal in seinem Leben, dass er sich für das Unglück eines anderen verantwortlich fühlte.
    »Also gut, Dan, reden wir darüber, okay?« Bill beugte sich über das Gesicht des Rangers. »Was hast du gesehen, im Sturm? Einen Geist? Wie sah er aus? Erzähl schon. Mir kannst du es ruhig sagen.« Schließlich flüsterte er: »Dan, ich habe sie auch gesehen, vergangene Nacht. Es war Tsonoqa, die Wilde Frau.«
    Keine Reaktion.
    Bill
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