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Rain Song

Rain Song

Titel: Rain Song
Autoren: Antje Babendererde
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seufzte und setzte sich wieder. »Ich habe immer gedacht, dieses Wesen existiert nur in unseren Geschichten und unserer Fantasie. Aber ich habe sie gesehen. Sie war fast nackt. Wenn du endlich aufwachen würdest, dann könnten wir uns über sie unterhalten.«
    Wenn es das ist, was du auch gesehen hast, dann weiß ich, dass ich nicht verrückt bin.
    Als der Sheriff das Zimmer verließ, hatte Dan sich noch immer nicht gerührt. Doch während Bill draußen auf dem Klinikparkplatz in seinen Wagen stieg, öffneten sich die Augen des Rangers einen Spalt breit. Es interessierte ihn brennend, was er da in seiner Hand hielt, das so merkwürdig nach Robbenöl roch.
    Greg und Hanna fuhren die Straße auf der Ostseite der Insel entlang, vorbei an üppig grünen Regenwäldern mit ehrwürdigen Baumriesen und dichtem Unterholz. Aber schon nach wenigen Kilometern tauchten riesige Kahlschlagflächen auf. Es sah gespenstisch aus. Endlose Flächen, auf denen nichts weiter zu finden war, als ein paar entwurzelte Baumstümpfe, deren gigantische Wurzeln wie drohende Arme in den Himmel ragten.
    »Wie traurig«, sagte Hanna.
    »Ja, hier läuft es anders als drüben bei uns«, sagte Greg. »Die Konzerne bestehen auf Clearcut und so werden in Minutenschnelle jahrhundertealte Baumriesen zu Brettern und Balken zersägt oder zu Zellstoff und Papier verarbeitet.« Er sah Hanna schräg von der Seite an. »Der Zellstoff geht vor allem nach Deutschland.«
    »Dieses Deutschland scheint euch Indianern ja mächtigen Ärger zu machen«, sagte sie spitz. »Dabei lieben viele meiner Landsleute alles, was mit Indianern zu tun hat.«
    Greg lächelte. »Schon möglich. Aber sie erdrücken uns mit ihrer Liebe.«
    Hanna seufzte kopfschüttelnd. »Warum wehren die Nuu-cha-nulth sich nicht?«
    »Gegen die Liebe der Deutschen?«
    Sie verdrehte die Augen. »Gegen den Clearcut natürlich«, sagte sie.
    »Sie wehren sich, haben aber wenig Erfolg damit. Ein weißer Richter meinte, die indianischen Nationen könnten das Land ja wieder nutzen, wenn die Holzkonzerne ihren Kahlschlag beendet hätten.«
    »Es hört nicht auf, oder?«
    »Nein, Hanna. Aber wir kämpfen.«
    »Und was wird aus diesem Wald?«
    »Wenn die Konzerne so weitermachen wie bisher, dann wird hier in zehn Jahren kein Baum mehr stehen.«
    Es war schon dunkel, als Greg und Hanna sich in Parksville ein Motelzimmer nahmen. Von hier aus waren es noch ungefähr hundertfünfzig Kilometer bis nach Qatawa, einem kleinen Ort an der Westküste. Von dort aus konnten sie nach Anaqoo übersetzen.
    Vielleicht ist Jim dort, dachte Greg. Er konnte sich natürlich auch irren, aber im Grunde war er sich sicher. In der vergangenen Nacht hatte er einen Traum gehabt, in dem ihm Jim erschienen war. Oder besser: sein Geist. Jims Geist hatte am Rand einer tiefen Erdgrube gestanden und sich nacheinander in verschiedene Tiere verwandelt. Rabe, Wolf, Bär, Wal und Otter. Durch diese Tiere hatte er zu Greg gesprochen.
    Manchmal sprachen die Geister der Toten durch Tiere zu den Menschen, die sie liebten. Die Geister der Toten.
    Wie soll ich das bloß Hanna erklären?
    Greg stand im winzigen Motel-Bad vor dem Spiegel und stöhnte leise. Er hatte Angst. In diesem Moment beneidete er jene Menschen, die nicht träumten – jedenfalls nicht auf diese Weise. Denn mitunter zeigten sich in solchen Träumen auch Dinge, die man lieber nicht gesehen hätte. Greg wehrte sich gegen diesen Traum, in dem ein toter Jim zu ihm gesprochen hatte.
    Mit einem Handtuch um die Hüften verließ Greg das Badezimmer und legte sich zu Hanna aufs Bett. Er sah, wie sich die Farbe ihrer Augen änderte. Von Meergrün in Dunkelviolett. Greg kroch zu ihr unter die Decke und küsste sie. Die braunen Punkte auf ihrer Nase begannen zu tanzen, als Hanna ihn anlächelte.
    »Ich weiß noch nicht, wie, aber ich werde es wiedergutmachen, dass du mich begleitest«, sagte sie.
    »Ich wüsste schon, wie«, murmelte Greg. Er schob Hannas T-Shirt nach oben und bedeckte ihre Brüste mit Küssen. Dann wanderten seine Lippen über ihren Bauch.
    »Wir sind so nah dran, Greg«, sagte Hanna. »Was glaubst du, werden wir ihn finden?«
    Greg hatte keine Antwort auf ihre Frage und mochte jetzt ausnahmsweise auch nicht an Jim denken.
    »Greg?«
    »Sprich ruhig weiter«, flüsterte er in Hannas Bauchnabel. »Tu einfach so, als wenn ich nicht da wäre.«
    Früh am Morgen machten sie sich auf den Weg nach Quatawa. Sie fuhren den Pacific Rim Highway durch den Regenwald, vorbei an einsamen
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