Rain Song
sofort wieder. Unter hundert anderen hätte sie es wiedererkannt. Für einen Augenblick stockte ihr der Atem. Es war Jims Messer. Sie selbst hatte es ihm geschenkt. Im Perlmuttgriff waren seine Initialen eingraviert.
Hannas fragender Blick richtete sich auf Annie.
»Ich habe es im Wald gefunden«, sagte die Indianerin. »Schon vor einer ganzen Weile.« Annies Stimme wurde weich, als sie sagte: »Ich denke, Sie sollten es haben.«
»Danke«, sagte Hanna, die langsam ihre Sprache wiederfand. »Ich habe Jim dieses Messer geschenkt. Jetzt ist sicher, dass er nach Neah Bay zurückgekehrt ist.« Sie suchte nach Gregs Augen. »Er war hier, Greg. Aber wo ist er jetzt?«
Er gab keine Antwort.
Annie fragte mit belegter Stimme: »Sie und Jim haben eine Tochter?«
»Ja«, sagte Hanna. »Ihr Name ist Ola. Aber Jim weiß nicht, dass sie existiert.«
»Dann wünsche ich Ihnen, dass Sie Jim finden. Um seiner Tochter willen.« Annie warf Greg einen anklagenden Blick zu, dann verschwand sie in Richtung Strand.
Hanna gab ein ersticktes Schluchzen von sich und brach in Tränen aus. Greg nahm sie vorsichtig in die Arme. Aber sie klammerte sich an ihn, als müsste er ihr erneut das Leben retten. Eine salzige Brise wehte vom Meer herüber und die Flut stieg.
Bill Lighthouse war hellwach, als er in dieser Nacht nach dem Potlatch in seinen Wagen stieg, um nach Hause zu fahren. Seine Glieder, sein ganzer Körper vibrierten vom langen Tanzen. Die Trommeln und der Gesang dröhnten noch in seinem Kopf. Er war zuversichtlich, was die Genesung seines Freundes Dan betraf. Schon während des Tanzes hatte er das gute Gefühl gehabt, eine Verbindung zu dem bewusstlosen Ranger hergestellt zu haben. Morgen würde er Dan im Krankenhaus besuchen und ihm den Pfahl bringen.
Leise murmelte er die Worte eines Liedes in der Makah-Sprache vor sich hin. Plötzlich riss er das Steuer herum und trat hart auf die Bremsen. Der Polizeiwagen schleuderte und kam zum Stehen. Erleichtert atmete Bill auf. Zum Glück war er angegurtet und er war nicht schnell gefahren. Betrunken war er auch nicht, was vielleicht die Gestalt erklärt hätte, die das Scheinwerferlicht auf der dunklen Straße angestrahlt hatte. Nackte Beine und Brüste. Langes wirres Haar. Er hatte Tsonoqa, die Wilde Frau, gesehen. Nur mit einem Zedernbastrock bekleidet. Ein lebendig gewordenes Fabelwesen.
Das kann einfach nicht sein.
Bill nahm die Hände vom Lenkrad. Wurde er jetzt wirklich verrückt? Oder lag es daran, dass er getanzt hatte? Die alten Tänze konnten wie eine Droge wirken, den Tänzer in eine Art Trance versetzen. Für eine Weile sah man dann die Welt in einer anderen Dimension. Man nahm Dinge wahr, die nicht waren.
Aber ich bin völlig klar im Kopf.
Der Sheriff gab Gas, schlug die Räder scharf ein und brachte den Wagen wieder in Fahrtrichtung. Er stellte ihn am Straßenrand ab und löste den Gurt. Im Lichtkegel der Scheinwerfer suchte er nach Spuren, vergeblich. Nackte Füße hinterlassen bekanntlich keine Spuren auf Asphalt.
Ein anderes Fahrzeug näherte sich und hielt neben ihm. Es war ein junger Mann aus dem Ort mit seiner Familie. Er beugte sich aus dem offenen Fenster. »Hallo, Sheriff! Was verloren?«
Bill winkte ab. »Nein, alles in Ordnung. Mir ist nur ein Reh über den Weg gelaufen.«
Der Kopf des jungen Mannes verschwand wieder und der Wagen fuhr an ihm vorbei. Noch einmal starrte der Sheriff auf das Gebüsch, in dem die Gestalt verschwunden war. Dann stieg er zurück in seinen Jeep und fuhr nach Hause. Doch was Bill im Scheinwerferlicht gesehen hatte, ließ ihn die ganze Nacht nicht los.
Die Hände auf das Geländer gestützt, stand Greg dicht neben Hanna auf der kleinen Veranda des Strandhauses. Die Flut stieg und die Wellen brachen sich mit lautem Getöse am Strand. Hier hatte jeder Moment des Tages und der Nacht seinen eigenen Klang. Der Ozean holte Atem in der Dunkelheit. Hanna sah aufs Meer hinaus und sog die salzige Luft tief in ihre Lungen. Bilder vom Potlatch geisterten durch ihr Hirn und die uralten Gesänge hallten noch in ihren Ohren. Doch über allem lag Gregs Umarmung.
Wiegt die Vergangenheit schwerer als der Moment?
In dieser Nacht würde sich alles entscheiden – so oder so. Hanna hob den Kopf in den Nacken und suchte den Himmel nach Antworten ab. Er war in Bewegung. Sterne, ungeordnet und wild, pulsierten durch die schwarze Nacht. Unter Tausenden gibt es einen Stern, der uns beschützt, hatte Jim zu ihr gesagt. Er ist immer da, auch dann,
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