Rain Song
erschien im Lichtschein des Blitzes wie ein Geist.« Er schluckte schwer, sein Adamsapfel tanzte auf und ab. »Sie war nackt, nur mit einem Baströckchen bekleidet.«
»Tsonoqa, die Wilde Frau aus dem Wald«, murmelte der Sheriff.
»Was?«
Bill seufzte, lehnte sich zurück und verschränkte seine Finger ineinander. »Unter unseren Geschichten gibt es auch eine über die Wilde Frau aus dem Wald. Ihr Name ist Tsonoqa und man sagt, sie sei nur mit einem Bastrock bekleidet. Es kommt immer mal wieder vor, dass jemand aus Neah Bay sie im Wald oder an der Küste gesehen haben will. Ich habe über solche Gerüchte immer gelacht.« Der Sheriff machte eine Pause. »Aber vergangene Nacht, Dan, da habe ich sie mit eigenen Augen gesehen.«
»Du auch?« Hadlock hob den Kopf und ließ sich sofort stöhnend wieder ins Kissen zurücksinken.
»Ja.« Bill nickte.
»Wir haben also einen Geist gesehen, Bill. Werden wir jetzt beide verrückt?«
Nachdenklich schüttelte der Sheriff den Kopf. Er stand auf und begann, im Zimmer auf und ab zu laufen. »Nein, mein Freund. Nicht wir sind es, die verrückt sind. Was wir gesehen haben, haben wir gesehen und es war auch kein Geist.« Bill blieb vor dem Fenster stehen und warf einen Blick auf den Parkplatz. »Ich fürchte nur, da draußen im Reservat rennt eine Frau herum, die tatsächlich geistesgestört ist. Keine Ahnung, ob sie etwas mit deinem Unfall zu tun hat. Vielleicht war es ein unglücklicher Zufall und sie war einfach nur da, als es passierte.«
»Hast du schon einen Verdacht?«
»Kann man so sagen.« Bill dachte daran, was Hanna ihm von Flora erzählt hatte. Vielleicht war sie harmlos, vielleicht aber auch eine Gefahr für andere. Wie dem auch sei, er musste der Sache auf den Grund gehen, selbst wenn sich das auf seine Pläne mit Tomita nicht förderlich auswirken würde.
»Sei bloß vorsichtig«, sagte Dan und griff sich seufzend an den Kopf.
»Klar«, erwiderte der Sheriff. »Und du werde schnell wieder gesund.«
»Danke für den Pfahl, Bill. Meine Familie hatte zwar Angst um mein Seelenheil, als sie mich mit dem Ding in der Hand vorfand, aber …« Er sprach nicht weiter.
»Was, Dan?«
»Du weißt schon, was ich sagen will.«
Bill nickte. »Was auch passiert, es gibt immer einen Weg, um damit fertig zu werden. Auch wenn er anderen etwas merkwürdig erscheint.« Er lächelte.
Die Tür ging auf und eine Schwester kam mit einem Tablett herein. Sie funkelte den Sheriff wütend an. »Was machen Sie denn hier? Der Patient braucht Ruhe, können Sie das nicht verstehen?«
»Ich gehe ja schon«, sagte Bill. Er verabschiedete sich von seinem Freund und verließ das Zimmer.
Während der Fahrt zurück nach Neah Bay dankte er dem Schöpfer, dass Dan Hadlock mit dem Schrecken davongekommen war. Und er schwor sich, einem Weißen nie wieder etwas über die Geister der Makah zu erzählen.
Matthew Ahousat wartete oben auf den Klippen und atmete die Salzluft tief ein. Flora würde kommen, dessen war er sich sicher. Sie kam immer. Vielleicht war sie von irgendetwas Unvorhergesehenem aufgehalten worden. Sein Körper würde sich gedulden müssen.
Der alte Holzschnitzer setzte sich auf einen Felsvorsprung. Er blickte hinunter auf den Pazifik, dieses riesige dunkle Ungeheuer, und er zählte. Vom Horizont bis zum Ufer brachen sich die Wellen zwölfmal. Die weißen Schaumkronen glitzerten in der Sonne. An manchen Tagen war das Meer für Matthew ein Strudel von Gedanken, ein Spiegel seiner Gefühle.
Mir bleibt nicht mehr viel Zeit.
Noch vor ein paar Jahren war die Zukunft ihm wie der breite Fächer eines Farnwedels erschienen. Matthew Ahousat hatte sein Wissen und Können an zwei kräftige junge Männer weitergegeben, von denen er erwartete, dass sie es irgendwann zur Vollkommenheit brachten und das Erlernte einmal an ihre Söhne weitergeben würden.
Damit hätte er das Vermächtnis seiner Vorväter erfüllt.
Doch von Matthews Hoffnungen war nicht viel geblieben. Sein Wahlsohn kam für eine würdige Nachfolge als Meisterschnitzer nicht mehr infrage. Jim Kachook hatte sich seine Zukunft selbst verbaut, indem er mit dieser Deutschen gegangen war. Und Greg hielt es nicht für nötig, die Richtige zu heiraten, damit sie ihm Söhne schenken konnte. Stattdessen vergeudete er seine Zeit lieber mit einer bleichgesichtigen Frau. Derselben Frau, die schon Jim verhext hatte . Nicht mal auf seinen eigenen Sohn konnte sich Matthew Ahousat also verlassen.
Im Laufe der Jahre hatte der Farnwedel seine
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