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Rain Song

Rain Song

Titel: Rain Song
Autoren: Antje Babendererde
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grünen Blätter verloren, bis am Ende nur noch der kahle Stiel übrig geblieben war, der stur eine einzige Richtung anzeigte: den Tod. Aber noch hatte Matthew Zeit. Vielleicht zehn Jahre, vielleicht auch ein paar mehr. Sein Körper war gesund und die Gedanken klar. Er musste die Dinge wieder selbst in die Hand nehmen.
    Schweigend las der alte Mann die Schrift der Wellen. Wie quälend er dieses Land liebte und verehrte. So sehr, dass der Schmerz manchmal unerträglich wurde. Seine Wurzeln schienen so tief und fest in diesem Boden verankert, dass er Mühe hatte, vorwärts zu gehen.
    Er hörte sie nicht kommen – ihre Schritte waren lautlos. Ohne etwas zu sagen, setzte sich eine halb nackte Gestalt neben den Meisterschnitzer. Matthew Ahousat wandte den Kopf und betrachtete das Profil von Flora, seiner schönen Geliebten. Die kräftigen Wangenknochen, das großflächige Gesicht, umrahmt von einer Wolke aus tiefschwarzen Haaren. Obwohl Flora auf die fünfzig zuging, fand sich noch kein graues Haar in ihrer dichten Mähne. Ahousat spürte, wie sich das Begehren in seinem ganzen Körper ausbreitete wie eine warme Woge.
    Er stand auf und griff nach Floras Hand. Sie folgte ihm in den Schutz des duftenden Waldes hinein. Im grün gewaschenen Licht des Nachmittags legte Matthew Ahousat seinen schweren Körper auf Floras warmen Leib, in der Hoffnung, dass sein Samen in ihrem Schoß zu neuem Leben keimen würde.
    Joey und Grace hatten den alten Meisterschnitzer schon eine ganze Weile beobachtet. Sie hatten sich im Wald geliebt und hatten Pläne für die Zukunft geschmiedet, als Matthew Ahousat aufgetaucht war und sich auf der sonnenbeschienenen Klippe niedergelassen hatte. Im Dickicht versteckt, hatten die beiden Jugendlichen abgewartet, was weiter geschehen würde.
    Ein Vogel schlug an und verstummte wieder. Weit unter ihnen schlug das Meer gegen die Felsen.
    Flora tauchte auf, so lautlos wie ein Geist und so geschmeidig wie ein Berglöwe. In ihrem schönen Gesicht erkannte Joey Hunter jenes dunkle Augenpaar wieder, das ihn damals daran gehindert hatte, mit Grace zu schlafen.
    »Sie ist es«, flüsterte er ihr zu.
    Sie schlichen den beiden hinterher, sahen zu, wie sie sich liebten. Grace empfand Neugier und Abscheu zugleich. Die Heftigkeit, mit der diese beiden alten Menschen ihre Leiber umschlangen, machte ihr Angst. Das hatte nichts mit dem zu tun, was Joey und sie bisher getan hatten.
    Verstohlen betrachtete sie Joey von der Seite. Das Leuchten in seinen Augen, die Vorfreude auf Dinge, die er irgendwann mit ihr tun würde, seine unausgesprochenen Wünsche, all das konnte sie in diesem Augenblick in seinem Gesicht lesen.
    Joey blickte zur Seite und merkte, dass sie ihn beobachtete. Er wurde tatsächlich rot. »Sie ist die Wilde Frau aus dem Wald«, sagte er leise, als wäre das eine Entschuldigung.
    »Willst du mich auf den Arm nehmen?«, flüsterte Grace zurück. »Das ist Flora Echahis.«
    »Sieh doch hin, sie trägt einen Rock aus Zedernrinde.«
    Grace wusste genau, dass es nicht Floras Rock war, was Joey so faszinierte. »Lass uns verschwinden, okay?«, sagte sie. »Es ist nicht fair, was wir hier tun.« Sie mochte nicht mehr hinsehen. Sie hatte genug.
    Joey legte einen Finger auf seine Lippen. »Erst, wenn sie gehen.«
    Doch Grace wandte sich aus seinem Arm und stahl sich davon. Denn was sie auf einmal an diesem Ort spürte, erschreckte sie. Es war das Gefühl einer düsteren Macht, der dunkle Arm der Vergangenheit.
    Anaqoo war ein winziger Ort an der zerklüfteten Küste vor Vancouver Island. Schwer erreichbar und wirtschaftlich uninteressant, gehörte er immer noch einzig und allein den Nachfahren der Menschen, die seit Jahrhunderten auf dieser kleinen Insel lebten. Früher waren sie viele gewesen. Aber die Ankunft Kapitän Cooks 1778 im Nootka Sound bescherte ihnen nicht nur großartige Handelsmöglichkeiten, sondern dezimierte die Bevölkerung durch eingeschleppte Krankheiten zahlenmäßig bis auf ein klägliches Häufchen.
    Damals waren die Nuu-cha-nulth von Vancouver Island auf hunderterlei Weise mit der Natur verbunden gewesen. Durch ihre Kleidung, die Art ihres Schuhwerks, die Boote, die sie bauten, die Nahrung, die sie sammelten, oder die Tiere, die sie erbeuteten.
    Ihre Vorfahren waren Walfänger, genauso wie die Vorfahren der Makah. Diese beiden Stämme waren die einzigen, die den Mut hatten, es auf dem Meer mit dem riesigen Tier aufzunehmen. Die heute in Anaqoo lebenden Indianer waren einfache Fischer. Wenn
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