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Rain Song

Rain Song

Titel: Rain Song
Autoren: Antje Babendererde
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die Flut weicht, dann wird der Tisch gedeckt, war eines ihrer uralten Sprichworte. Nur dass heute der Wal nicht mehr gejagt werden durfte und auch Heilbutt und Lachs – die wichtigste Nahrungsquelle der Inselbewohner – immer weniger wurden.
    Wie ihre Verwandten vom Festland ergänzten sie ihren Speisezettel mit Wild aus den Wäldern, Beeren, essbaren Wurzeln und Sprossen. Von der Welt des zwanzigsten Jahrhunderts weitgehend unberührt, führten die Bewohner von Anaqoo ein einfaches, nah an der Natur ausgerichtetes Leben.
    Als Greg und Hanna im kleinen Hafen an Land gingen, waren sie enttäuscht. Auf den ersten Blick schien der Ort wie verlassen. Entlang des Ufers standen ein paar Häuser, deren einstiger Anstrich durch Wind und Wetter bereits verblasst war. Aber dann entdeckten sie da und dort das Trockengerüst eines Fischers und einen großen Wappenpfahl vor der bemalten Wand der Gemeindehalle. Der Pfahl war keine von Jims Arbeiten, das war ihnen beiden sofort klar. Es gab keine physische Verbindung zwischen den einzelnen Figuren.
    Eddie Elswa wies auf ein kleines, windschiefes Haus nahe am Waldrand. »Da drüben wohnt meine Großmutter. Wenn Sie zurückwollen, dann holen Sie mich einfach dort ab.«
    Greg nickte. »Können Sie uns sagen, in welchem Haus Jim Kachook lebt?«
    Elswa drehte sich um und zeigte auf das letzte Haus am anderen Ende des Ortes. »Dorthinten«, sagte er. »Dort wohnt Jim Kachook mit seiner Familie.«
    Greg blickte Hanna an. Er sah den Widerstreit ihre Gefühle in ihrem Gesichtsausdruck. Ihre Miene war gequält, aber entschlossen. Offensichtlich tat ihr das alles mehr weh, als sie sich eingestehen wollte.
    Vielleicht werde ich um sie kämpfen müssen, dachte er.
    Eine Gruppe lachender, schwarzäugiger Kinder rannte an ihnen vorbei und Greg spürte, dass Hanna denselben Gedanken hatte wie er: Möglicherweise war unter diesen Jungen und Mädchen ein Kind von Jim.
    »Wollen wir?«, fragte er.
    Als sie sich nicht vom Fleck rührte, nahm er ihre Hand. »Wir mussten damit rechnen, Jim hier zu finden«, sagte er mit rauer Stimme. »Du wolltest die Wahrheit wissen, Hanna.«
    Sie holte tief Luft und ließ sich von ihm mitziehen.
    Hannas Knie zitterten und drohten, ihr den Dienst zu versagen. Alles in ihr schrie danach, umzukehren, nicht weiterzugehen, die Wahrheit auf dieser Insel zu lassen – aber da war Greg, der sie mit festem Griff vorwärtszog.
    Er humpelte wieder, und das tat ihr leid.
    Sie spürte die Angst in seinem Griff, sah, dass die andere Hand zur Faust geballt war.
    Was tue ich ihm da an?, dachte sie. Was tue ich uns an?
    Als sie nur noch ein paar Meter vom Haus entfernt waren, entdeckte Hanna auf der Südseite Trockengerüste, auf denen Fisch in der Sonne dörrte. Die Gerüste waren hoch genug, damit die Hunde den Fisch nicht erreichen konnten. Netze hingen an den Bretterwänden der Hausvorderseite. Alles deutete auf eine Fischerhütte hin – und nicht auf die Werkstatt eines Holzschnitzers.
    Die Tür öffnete sich und eine junge Frau trat heraus. Sie formte die Hände vor ihrem Mund zu einem Trichter und rief laut zwei Namen. Ein etwa fünfjähriger Junge und ein gleichaltriges Mädchen lösten sich aus dem Kinderknäuel und rannten an Hanna und Greg vorbei zu ihrer Mutter. Zwillinge.
    Hanna wurde schwindlig. Unfähig, ihren Schmerz zu verbergen, hob sie beide Hände vor ihr Gesicht. Jim hat eine Familie, Kinder. Er hatte es also niemals ernst mit ihr gemeint. Wie schwer es ihr fiel, sich das einzugestehen. Ihre Beine wollten sie nicht mehr tragen.
    Greg legte einen Arm um ihre Hüfte. »Du schaffst das«, sagte er leise.
    Als die Frau merkte, dass die beiden Fremden zu ihr wollten, blieb sie mit vor der Brust verschränkten Armen in der offenen Tür stehen. Sie trug Jeans und eine weite Bluse, unter der sich ein geschwollener Bauch abzeichnete. Sie musste ungefähr im sechsten oder siebten Monat sein. Ihre dunklen Gesichtszüge waren von lebendiger Schönheit.
    Greg schob Hanna in Richtung Hauseingang. Er nannte seinen und Hannas Namen und begrüßte die junge Frau auf Makah. Über ihr Gesicht huschte ein freundliches Lächeln, als sie seinen Gruß erwiderte, so, als hätte er eine Zauberformel ausgesprochen. Sie hieß Fanny. Greg fragte sie nach Jim.
    Fannys Lächeln wurde milde. »Jim ist mit dem Boot draußen«, sagte sie. »Aber er wird bald zurück sein. Kommen Sie doch herein, dann können Sie auf ihn warten.«
    In der Küche bot Fanny beiden einen Platz an. »Schon den
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