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Rain Song

Rain Song

Titel: Rain Song
Autoren: Antje Babendererde
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ganzen Tag hockt Jim da draußen und hofft auf den großen Fang. Es ist jeden Sonntag dasselbe. Aber heute muss ich wenigstens keine Angst um ihn haben, das Meer ist ruhig.«
    Fanny stellte Tassen auf den Tisch und schenkte kalten Tee ein. Sie bewirtete ihre Kinder und ihre Gäste mit kleinen Heidelbeerkuchen. Sie schmeckten wunderbar, doch Hanna kaute nur mechanisch darauf herum. Sie konnte den Blick nicht von der Indianerin wenden. Ihr langes Haar, das glänzte wie Rabenfedern, wenn Sonnenstrahlen es berührten. Die klaren dunklen Augen, die Ruhe und Geborgenheit ausstrahlten.
    Mit einem Mal fühlte Hanna sich, als hätte man ihr den Boden unter den Füßen weggezogen. Die ganze Zeit hatte sie sich eingeredet, Jim nur deshalb finden zu wollen, damit sie sicher sein konnte, dass es ihm gut ging. Und nun? Offensichtlich ging es ihm sehr gut. Er hatte eine Familie. Wieso war sie nicht zufrieden damit? Wieso fühlte sie sich so gedemütigt und verletzt?
    Nur mit Mühe gelang es ihr, die Tränen zurückzuhalten. Sie wollte nicht, dass Greg merkte, wie weh ihr das alles tat, wie frisch die Narben waren, die Jims Verschwinden hinterlassen hatte. Jetzt drohten die alten Wunden wieder aufzubrechen. Hanna empfand Eifersucht. Auch den beiden Kindern gegenüber. Jim war ihr Vater. Er kümmerte sich um sie. Bestimmt saß er abends an ihrem Bett und erzählte ihnen Geschichten, bis sie einschliefen. Wenn ihre Beine müde waren, trug er sie auf seinen starken Schultern. Vielleicht durften sie ihn manchmal in seinem Boot auf das Meer hinausbegleiten.
    Das alles hat er Ola weggenommen.
    Und mit Sicherheit legte Jim oft seine Hände auf den Bauch, unter dem neues Leben wuchs. Das ist nicht fair, dachte Hanna. Auf ihren Bauch hatte niemand seine Hände gelegt, als Ola darin heranwuchs. Sie hatte alles allein durchstehen müssen. Die morgendliche Übelkeit in den ersten Schwangerschaftswochen, das Sodbrennen, die geschwollenen Beine, die panischen Anfälle von Verlassenheit kurz vor der Geburt.
    Plötzlich war Hanna wütend auf die andere Frau. Das Gebäck in ihrem Mund wurde immer mehr, sie brachte es einfach nicht herunter. Am liebsten wäre sie nach draußen gerannt, geflohen vor der Realität. Aber vielleicht lief sie dann Jim in die Arme, ohne Greg an ihrer Seite zu haben.
    Mit leicht verschleiertem Blick sah sie ihn an. Obwohl er Smalltalk mit Fannie machte, hatte er nicht aufgehört, Hanna zu beobachten. Sie erkannte, wie sehr er litt. Mit gesenktem Kopf legte sie ihre Hand zaghaft auf seine. Nach Sekunden der Reglosigkeit nahm er ihre Hand und umschloss sie fest.
    Fannie goss Tee nach.
    »Wann kommt das Baby?«, fragte Greg beiläufig.
    »Anfang Oktober«, antwortete Fanny lächelnd. »Ich werde es hier in diesem Haus bekommen, wie schon Sammy und Mara. Wir haben eine gute Hebamme im Dorf.« Sie wollte noch etwas sagen, als die Tür sich öffnete.
    Zuerst erschien ein Bündel Holz. Greg und Hanna starrten auf den Mann, der dahinter auftauchte, ein breites Lächeln im Gesicht. Er küsste Fanny und nahm die Kinder auf seine Arme, die ihn stürmisch begrüßten.
    »Paul«, sagte Fanny, »wir haben Gäste. Sie wollen zu Vater.«
    Der Mann, er musste Anfang oder Mitte dreißig sein, setzte die Kinder wieder auf den Boden und sie rannten kichernd aus dem Haus.
    Er reichte erst Hanna, dann Greg die Hand. Er hatte Jims Augen, aber er war nicht Jim.
    »Herzlich willkommen!«, sagte er. »Mein Vater wird gleich hier sein. Er hat einen großen Heilbutt gefangen und zerlegt ihn unten am Strand. Es ist ein großartiger Fang und Vater braucht Zeit, um seine Dankeslieder zu singen.«
    Hanna saß wie erstarrt. Sie hörte die Worte, konnte sie aber kaum verarbeiten. Sie war zu keinem klaren Gedanken mehr fähig.
    Greg fing sich als Erster. »Jim Kachook ist dein Vater?«, fragte er.
    Paul nickte.
    »Dann hast du vielleicht einen älteren Bruder, der auch Jim heißt? Er ist Schnitzkünstler und …«
    Paul ließ sich schwer auf einen der Küchenstühle fallen und starrte nun seinerseits erst Greg und dann Hanna an. Sein Lächeln schien an den Mundwinkeln zu zerbröckeln, alles Blut aus seinem Gesicht gewichen zu sein. »Ja«, sagte er und seine Stimme klang fast tonlos, »mein Bruder Jim war ein guter Holzschnitzer.«
    »War?«, fragte Hanna und spürte, wie ihr das Atmen plötzlich schwerfiel.
    Pauls Stirn verfinsterte sich schlagartig. Zornig schlug er mit beiden Händen flach auf den Tisch. »Jim ist seit fünf Jahren nicht mehr hier
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