Rain Wild Chronicles 01 - Drachenhüter
schaden?«
Hest schnaubte, und als Sedric zu ihm aufschaute, war das Gesicht seines Freundes höhnisch verzogen, und die Augen waren wie grünes Eis. Als Sedric über seine Worte nachdachte, entdeckte er seinen Fehler. Hest hörte es gar nicht gerne, dass er jemandem etwas schuldig war. Jetzt stand er auf und drehte eine Runde durch das Zimmer. »Was kann es schon schaden?«, ahmte er Sedric nach. »Wem kann es schaden? Nur meinem Geldbeutel. Und meinem Ruf! Meinem Stolz auch, aber ich vermute, der bedeutet dir nichts. Ich soll meine Frau ohne Begleitung durch die Regenwildnis latschen lassen, damit sie ihrer bescheuerten Mission nachgeht, die darin besteht, unter irgendeinem Felsbrocken einen versteckten Elderling zu finden oder die armen, verkrüppelten Drachen zu retten? Schlimm genug, dass sie jede freie Minute damit zubringt, sich in diesem Schwachsinn zu vergraben. Soll ich auch noch zulassen, dass ihre Grille öffentlich bekannt wird?«
Sedric bemühte sich um einen rationalen Tonfall. »Das ist keine Grille, Hest. Das ist wissenschaftliches Interesse …«
»Wissenschaftliches Interesse! Sie ist eine Frau, Sedric! Und nicht einmal eine besonders gebildete! Schau doch mal an, welche Schule sie hinter sich hat: eine Hauslehrerin, die sie sich mit ihren Schwestern geteilt hat! Eine billige Hauslehrerin, die womöglich nichts lehren konnte außer Lesen, ein bisschen Arithmetik und wie man Blümchen auf einen Schal stickt. Gerade genug Bildung, um auf dumme Gedanken zu kommen, wenn du mich fragst! Gerade genug, um sich als ›Gelehrte‹ aufzuspielen und zu glauben, sie könne einfach eine Schiffspassage kaufen und alleine verreisen, ohne auch nur einen Gedanken an Schicklichkeit oder an ihre Pflichten gegenüber ihrem Ehemann und ihrer Familie zu verschwenden. Ohne sich auch nur eine Sekunde lang zu überlegen, was eine derart unziemliche Reise ihren Ehemann kosten wird!«
»Das kannst du dir gut leisten, Hest! Erst kürzlich hat mir Braddock gesagt, wie viel seine Frau für Kleider, Empfänge für Freunde und die ständigen Umbauten an ihrem Haus verschleudert. Dagegen kostet dich Alise nichts. Abgesehen von den Dingen, die sie für ihre Studien braucht, lebt sie so bescheiden, wie es irgend geht. Im Ernst, Hest, meinst du nicht, du schuldest ihr diese Freiheit nach all den Jahren, die sie darauf gewartet hat? Lass sie diese Reise machen. Du hast massenhaft Kontakte entlang des Regenwildflusses. Auf ein Wort von dir hin sollte sie doch eine Passage auf der Golddaune oder einem anderen Lebensschiff bekommen. Und mir fallen ein halbes Dutzend Regenwildhändler ein, die entzückt wären, ihr ihre Gastfreundschaft anzubieten, ganz gleich, wie schrullig sie auch sein mag. Sie würden es alleine schon dir zu Gefallen tun und …«
»Gefallen, die ich später zurückzahlen müsste. Und da hast du es ja schon selbst gesagt: ›Ganz gleich, wie schrullig sie auch sein mag‹! Das ist ja mal eine feine Visitenkarte für mich. Ich kann es jetzt schon hören: ›O ja, wir hatten Hest Finboks verrückte Frau bei uns zu Gast. Die ist die ganze Zeit in den Ruinen herumgeirrt und hat auf die Drachen eingeredet. Ein wirklich ulkiges Frauenzimmer. Ihr Kopf ist durchlöchert wie ein von Käfern zerfressener Baum.‹«
Hest vermochte geschickt Stimmen und Sprechweisen zu imitieren. So aufgebracht er war, musste Sedric doch ein Lächeln unterdrücken, als sich sein Freund plötzlich in eine alte Schwatzbase mit dem sumpfigen Akzent der Regenwildnis verwandelte. Doch er verkniff sich jeden Kommentar und schüttelte tadelnd den Kopf.
Entschieden sprach Hest weiter: »Mir ist gleichgültig, was sie gesagt oder vorbereitet hat. Sie darf nicht gehen. Und schon gar nicht allein.«
Sedric fand die Sprache wieder. »Dann schicke sie eben nicht alleine fort. Sieh doch die Gelegenheit, die sich damit bietet! Geh mit ihr in die Regenwildnis. Erneuere deine Handelsbeziehungen. Du warst bestimmt schon seit sechs Jahren nicht mehr …«
»Und das aus guten Gründen. Sedric, du kannst dir nicht vorstellen, wie dieser Fluss stinkt. Und in diesem Wald wird es einfach nie hell. Die Leute wohnen in Häusern aus Papier und Stecken und ernähren sich von Eidechsen und Käfern. Jeder Zweite ist von der Regenwildnis gezeichnet, und es schaudert mich beim bloßen Anblick. Ich kann mir nicht helfen. Nein. Den Regenwildhändlern von Angesicht zu Angesicht zu begegnen, würde meine Beziehungen nicht festigen, sondern nur beschädigen.«
Sedric
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