Rain Wild Chronicles 01 - Drachenhüter
ausgesetzt hat?«
Mit einer derart unverschämten Frage hatte sie nicht gerechnet. Einen Moment stand sie wie gelähmt da. Würde sie ihrer Familie Ärger machen, wenn sie die Wahrheit sagte? Ihr Vater hatte sämtliche Regeln gebrochen, als er der Hebamme gefolgt war und seinen Säugling zurückgeholt hatte, anstatt ihn Wind und Wetter und den wilden Tieren zu überlassen. Thymara holte tief Luft und wand sich heraus. »Meine Missbildungen traten erst während des Wachstums zutage. Bei meiner Geburt waren sie noch nicht vollständig sichtbar.«
Händler Mojoin ließ ein ungläubiges Schnauben hören. Einer der anderen Händler rutschte verlegen auf seinem Stuhl hin und her. »Sind dir die Bedingungen dieser Anstellung bewusst?«, fragte Mojoin sie ohne Umschweife. »Erklärt sich deine Familie damit einverstanden, dass wir weder für deine Rückkehr noch für deine Sicherheit garantieren, wenn du einmal mit den Drachen aufgebrochen bist?«
Sie war über die Ruhe überrascht, mit der sie antwortete. »Meine Eltern haben die Papiere unterschrieben, die Euch vorliegen. Es ist ihnen bewusst, und was noch wichtiger ist: Mir ist es bewusst. Ich bin alt genug, um diese Verpflichtung einzugehen.« Als Mojoin sich mit einem knappen Nicken zurücklehnte, fügte sie hinzu: »Aber ich würde gern erfahren, was genau meine Aufgaben sind und was letztlich das Ziel unserer Mission ist.«
Sein Blick verfinsterte sich. »Hast du den Vertrag, den man dir gegeben hat, nicht gelesen, Mädchen? Dort wird alles deutlich gesagt. Die Drachen haben die Menschen um eine Begleitung gebeten, wenn sie flussaufwärts ziehen, um ihre neue Heimat zu finden. Dir wird ein Drache zugeteilt, oder auch mehrere Drachen. Du hilfst, die Drachen stromaufwärts an einen Ort zu befördern, der besser für sie geeignet ist, und zwar so, wie es die Drachen wünschen oder wie es deiner Aufgabe entspricht. Du wirst für die Ernährung deines Drachens oder deiner Drachen sorgen, indem du jagst oder Fische fängst. Und du wirst so lange in der neuen Heimstatt der Drachen verweilen, bis sie sich dort eingerichtet haben und in der Lage sind, sich selbst zu versorgen, oder bis sie deiner Dienste aus anderen Gründen nicht mehr bedürfen.«
Mit kalter Stimme stellte sie ihre nächste Frage: »Wenn mein Drache oder meine Drachen also sterben, kann ich zurückkehren?«
Mojoin setzte sich gerade. »Das ist eine Einstellung, die wir nicht brauchen können! Wir erwarten, dass du alles in deiner Macht Stehende unternimmst, um dem Vertrag zwischen den Händlern und der Drachin Tintaglia zu entsprechen. Deine Aufgabe besteht darin, deinem Drachen oder deinen Drachen dabei zu helfen, einen besseren Ort zu finden, wo sie auf sich selbst gestellt leben können.« Er rutschte ein Stück auf seinem Stuhl und fügte beinahe widerwillig hinzu: »Wir machen keinen Hehl aus unserer Hoffnung, dass die Drachen euch zu der Elderlingsstadt führen werden, an die sie sich laut ihren Versicherungen erinnern können. Kelsingra.«
Sie verkniff sich eine Menge Bemerkungen und Fragen, stellte aber dennoch die eine: »Reisen wir an einen bestimmten Ort? Hat den schon jemand auskundschaftet, sodass wir wissen, wie lange wir ungefähr unterwegs sein werden?«
Mojoins Kiefer bewegten sich, als habe er einen fauligen Bissen im Mund und wollte ihn ausspucken. Er antwortete ihr ausweichend: »Die Drachen scheinen eine angeborene Erinnerung an die Lage des Ortes zu haben. Sie sind die zuverlässigsten Führer, um zu einem geeigneten Ort zu finden, wo sie sich niederlassen können. Zwar ist die alte Stadt das eigentliche Ziel, aber es ist durchaus möglich, dass ihr eine andere Gegend entdeckt, die für die Drachen besser geeignet ist.«
»Ich verstehe«, gab sie knapp zurück. Und sie verstand durchaus. Ihr Vater hatte recht gehabt. Dies war keine Auswanderung, sondern eine Abschiebung. Sowohl die lästigen Drachen als auch ein Schwung missliebiger Individuen aus der Bevölkerung sollten verbannt werden.
»Du verstehst? Bestens!«, kam unverzüglich Mojoins Erwiderung. Er klang erleichtert. »Dann sind wir uns einig.« Er griff zu einem Siegel auf dem Tisch und drückte es auf die Papiere. »Sobald du unterschreibst, bist du offiziell angeheuert. Beim Hinausgehen bekommst du eine Provianttasche und wirst hinunter zu den Drachen gebracht. Die Hälfte deines Lohns bekommst du als Vorschuss. Beeile dich mit der Verabschiedung von deiner Familie, denn du solltest so bald wie möglich aufbrechen.«
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