Rain Wild Chronicles 01 - Drachenhüter
ihren Höhepunkt erreicht, als drei Hunde auf das Tier losgelassen worden waren, um ihm den Rest zu geben. Sedric hatte aufstehen und gehen wollen, doch Hest hatte ihn unauffällig beim Handgelenk gepackt und angezischt: »Bleib. Oder wir stehen nicht nur als schwach da, sondern auch als unhöflich.«
Und Sedric war geblieben, obwohl er das Spektakel verabscheut hatte.
Die Art, wie Hest ihn mit winzigen Sticheleien piesackte, erinnerte ihn daran, wie er in Chalced mit den anderen den Keiler gequält hatte. Damals hatten Hests Züge denselben gleichgültigen, berechnenden Ausdruck gehabt wie jetzt. Mit scharfen Worten die empfindlichsten Stellen treffen. Hests wohlgeformter Mund bildete eine dünne Linie, seine grünen Augen waren schmal und blickten Sedric kalt und katzengleich an.
»Ich war nicht allein«, sagte Sedric leise. »Denn Alise war meine Freundin. Auch wenn sie kam, um meine Schwester zu besuchen, so hat sie sich doch immer Zeit genommen, um auch mit mir zu reden. Wir haben unsere Lieblingsbücher ausgetauscht, Karten gespielt und sind zusammen im Garten spazieren gegangen.« Er dachte daran zurück, wie es damals um ihn gestanden hatte: Von den meisten Jungen in seiner Schule gemieden, seinem Vater ein Rätsel, das Ziel der Hänseleien seiner Schwestern. »Außer ihr hatte ich niemanden«, sagte er sanft und ärgerte sich darüber, wie viel diese Worte über ihn preisgaben. »Wir haben uns gegenseitig geholfen.«
Die geflüsterte Bemerkung schien in seinem Freund etwas berührt zu haben. »Natürlich habt ihr das getan«, pflichtete ihm Hest bei. »Und das kleine Mädchen, das sie damals war, fühlte sich von der Aufmerksamkeit eines ›älteren Mannes‹ vermutlich geschmeichelt. Vielleicht war sie sogar ein bisschen in dich verliebt.« Er lächelte Sedric an und fügte leise hinzu: »Das kann ich ihr nicht verdenken. Wer wäre nicht in dich verliebt gewesen?«
Sedric starrte ihn ruhig atmend an. Ohne mit der Wimper zu zucken, begegnete Hest seinem Blick. Jetzt waren seine Augen dunkelgrün wie Moos im Schatten eines Baums. Sedric wandte sich mit einem Gefühl der Beklemmung ab. Verflucht. Was war es nur, das Hest solche Macht über ihn gab? Wie brachte Hest es fertig, ihn in einem Augenblick zu verletzen und ihn im nächsten Moment zum Schmelzen zu bringen?
Sedric sah auf seine Hände hinab, in denen er noch immer Hests blaues Hemd hielt. »Wünschst du dir nicht manchmal, dass es anders wäre?«, fragte er leise. »Ich bin die Täuschung und Betrügerei so leid. Ich bin der Verstellung überdrüssig.«
»Welche Verstellung?«, fragte Hest.
Sedric sah verwirrt zu ihm auf und erntete einen nichtssagenden Blick. »Wenn ich deinen Reichtum besäße«, tastete sich Sedric vor, »dann würde ich von hier weggehen, irgendwohin, wo uns niemand kennt. Und ein neues Leben beginnen. Zu meinen eigenen Bedingungen. Ohne Entschuldigungen.«
Hest lachte prustend. »Und in kürzester Zeit wäre der Reichtum dahin. Sedric, das habe ich dir doch schon erklärt. Es gibt einen enormen Unterschied zwischen Geld und wahrem Reichtum, wie ihn meine Familie besitzt. Reichtum entsteht in Generationen, und seine Wurzeln sind weit verzweigt und erstrecken sich über die ganze Stadt. Natürlich kannst du dir Geld schnappen und davonlaufen, doch wenn das Geld ausgegeben ist, bist du arm. Und dann hast du nur noch lange Jahre harter Arbeit vor dir, um für die Generation nach dir einen Grundstock für Reichtum aufzubauen.
Und dazu habe ich absolut keine Lust. Ich mag mein Leben, Sedric. Ich mag es so, wie es ist. Und zwar sehr. Darum mag ich es nicht, wenn Alise beabsichtigt, es durcheinanderzubringen. Beinahe noch weniger mag ich es, wenn du glaubst, dass ihr Benehmen verzeihlich ist. Was meinst du, wird aus dir, sollte ich zugrunde gehen?«
Sedric hatte den Blick auf seine Füße gerichtet, als würde er sich schämen, raffte aber seinen letzten Mut zusammen, um sich auf Alises Seite zu schlagen. »Sie muss in die Regenwildnis gehen, Hest. Gönne ihr das, und ich bin überzeugt, dass ihr dies über den Rest ihres Lebens hinweghelfen wird. Eine Gelegenheit, in die Welt zu reisen, selbst etwas zu unternehmen und Dinge mit eigenen Augen zu sehen, von denen sie sonst nur in ihren zerfledderten Schriftrollen liest. Das ist alles. Lass sie in die Regenwildnis gehen. Das schuldest du ihr. Ich schulde ihr das, denn schließlich hättet ihr ohne mich nie geheiratet! Gib ihr diese schlichte Kleinigkeit. Was kann es schon
Weitere Kostenlose Bücher