Rain Wild Chronicles 01 - Drachenhüter
angetan haben.« Hinter ihr stieß Sedric ein bestürztes Keuchen aus. Doch sie achtete nicht auf ihn.
»Euch hassen?« Langsam verdaute Paragon ihre Worte, bevor er weitersprach. Dabei drehte er sich nicht zu ihr um, sondern hielt den Blick auf den Fluss gerichtet, während das Schiff sich stetig gegen den Strom arbeitete. »Wieso sollte ich meine Zeit mit Hass verschwenden? Gewiss war das, was man mir angetan hat, unverzeihlich. Vollkommen unverzeihlich. Die es getan haben, leben nicht mehr, um ihre Strafe zu empfangen oder um Verzeihung zu bitten. Und selbst wenn sie noch lebten und es täten, würde das ihre Tat nicht ungeschehen machen. Die Qualen, die ich erleide, können nicht rückgängig gemacht werden. Meine geraubte Zukunft kann mir nicht zurückgegeben werden. Die Gesellschaft mit meinesgleichen, die Möglichkeit, zu jagen und Beute zu erlegen, zu kämpfen und mich zu paaren, ein Leben zu führen, bei dem ich niemandes Sklave noch Meister bin; all das ist mir auf ewig verwehrt.«
Nun warf er ihr doch einen Blick zu. Das Blau seiner Augen hatte sich in eisiges Grau verwandelt. »Könnt Ihr Euch irgendeine Tat vorstellen, die das wiedergutmacht? Irgendein Opfer, das diesen Frevel angemessen aufwiegen würde?«
Sie hörte den eigenen Pulsschlag in den Ohren. War Paragon deshalb so oft gekentert und hatte so viele Menschenleben ausgelöscht? Und war er inzwischen der Meinung, dass genug Menschen als Sühne für das Unrecht an ihm gestorben waren, oder würde er noch mehr verlangen?
Sie hatte seine Frage noch nicht beantwortet. Mit ein dringlicherer Stimme drängte er: »Nun? Welches Opfer wäre angebracht?«
»Mir fällt keines ein«, erwiderte sie zaghaft. Sie umfasste die Reling etwas fester und fragte sich, ob er sich nun auf den Rücken legen und sie alle ertränken würde.
»Mir auch nicht«, sagte er. »Keine Vergeltung könnte die Schuld aufheben. Kein Opfer würde es wiedergutmachen.« Sein Blick glitt auf die Wellen. »Und deshalb habe ich beschlossen, die Sache hinter mir zu lassen und das zu sein, was ich jetzt bin, da mir ohnehin keine andere Inkarnation mehr zur Verfügung steht. So lebe ich dieses Leben, solange das Holz dieses Körpers es mir ermöglicht.«
Sie traute ihren Ohren nicht. »Dann habt Ihr uns vergeben?«
Paragon stieß ein leises Schnauben aus. »Das ist gleich in zweierlei Hinsicht falsch. Ich habe nichts vergeben. Und ich sehe nicht das ›Uns‹, an dem ich mich eurer Meinung nach rächen könnte. Ihr habt mir das nicht angetan. Aber selbst wenn Ihr es getan hättet, würde es dadurch nicht ungeschehen gemacht werden, dass ich Euch tötete.«
Plötzlich meldete sich Sedric hinter ihr zu Wort. »Eine solche Haltung hätte ich bei einem Drachen nicht erwartet.«
Wieder schnaubte Paragon , halb verächtlich, halb amüsiert. »Ich habe Euch doch schon gesagt, dass ich kein Drache bin. Genauso wenig wie diese Geschöpfe, die Ihr besuchen und studieren möchtet. Deshalb habe ich Euch zu mir gebeten. Um Euch das zu sagen. Um Euch zu sagen, dass Eure Reise zwecklos ist. Wenn Ihr diese erbärmlichen Missgeburten studiert, werdet Ihr nichts über Drachen lernen. Nicht mehr, als wenn Ihr mich studieren würdet.«
»Wieso sollten sie keine Drachen sein?«
»In einer Welt mit Drachen hätten sie nicht überlebt.«
»Hätten andere Drachen sie getötet?«
»Andere Drachen hätten sie gar nicht wahrgenommen. Aber sie wären gestorben und dann gefressen worden. Ihr Wissen und ihre Erinnerungen hätten in jenen überlebt, die sie gefressen hätten.«
»Das erscheint mir grausam.«
»Grausamer, als sie so, wie sie jetzt sind, am Leben zu erhalten?«
Alise holte Luft und wagte erneut eine kühne Erwiderung. »Ihr habt Euch dafür entschieden, so weiterzuleben, wie Ihr seid. Sollte man ihnen diese Wahl nicht auch lassen?«
Die Muskeln seines breiten Rückens spannten sich an, und auf einmal war Alise wie gelähmt vor Furcht. Aber als er ihr den Kopf zuwandte, lag in seinen blauen Augen ein Funke Respekt, der zuvor nicht dagewesen war. Er nickte bedächtig. »Ein guter Punkt. Dennoch bitte ich Euch, wenn Ihr diese Gestalten studiert, daran zu denken, dass sie Euch nichts über die Drachen von einst beibringen können. Mir ist zu Ohren gekommen, dass die Hälfte von ihnen ohne Ahnengedächtnis geschlüpft ist. Wie können sie Drachen sein, wenn sie nicht einmal wissen, was ein Drache ist?«
Seine Bemerkung brachte sie auf einen anderen Gedanken. »Aber Ihr wisst es. Denn trotz
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