Rain Wild Chronicles 01 - Drachenhüter
sie ein Stück voraus und rief albern aus: »Diese Bäume nehmen einfach kein Ende! Sieh nur, wie sehr sie Land und Wasser mit Schatten überziehen!«
Clef stand neben der kurzen Leiter, die zum Vorderdeck hinaufführte. Er streckte ihr die Hand entgegen. Sie schlug die Hilfe mit einer sorglosen Zuversicht aus, die sie gar nicht empfand. Im Hinaufsteigen drückten die Lagen aus Röcken und Unterröcken gegen die Leiterholme, und oben angekommen, trat sie auf ihren Rocksaum, stolperte und konnte nur knapp einen Sturz verhindern.
»Gnädige Frau!«, rief Clef besorgt aus, doch sie beschwichtigte ihn: »Oh, alles in Ordnung. Bin nur ein bisschen ungeschickt. So bin ich eben!« Sie strich sich Haare und Rock zurecht und sah sich erwartungsvoll um. Vor ihr lief das Deck spitz zusammen und wurde von einer unüberschaubaren Zahl an Tauen und Klampen und anderen Dingen beherrscht, deren Namen sie nicht kannte. Während sie auf die Spitze zuging, erkannte sie unter dem Bugspriet Paragons Hinterkopf. Er hatte dunkles, lockiges Haar.
»Bitte, geht zu ihm und sprecht mit ihm«, forderte Clef sie auf. Hinter sich hörte sie Sedrics leise Stimme, als er ebenfalls das Deck erklomm. Ohne sich zu ihm umzuwenden, tastete sie sich bis zur Reling vor. Von hier konnte sie seitlich hinabsehen. Obwohl sie es gewusst hatte, fand sie es ein wenig erschreckend, dass die weit überlebensgroße Galionsfigur keine Kleider anhatte. Sein nackter, sonnengebräunter Rücken war ihr zugewandt. Die muskulösen Arme hatte er vor der Brust verschränkt.
»Guten Tag«, begann sie, bevor sie stockte. Sprach man ein Lebensschiff etwa so an? Sollte sie »Herr« zu ihm sagen, oder » Paragon «? Ihn wie einen Menschen oder wie ein Schiff behandeln?
In diesem Moment drehte die Galionsfigur Oberkörper und Hals, um sich ihr zuzuwenden. »Guten Tag, Alise Kincarron. Ich freue mich, Euch endlich kennenzulernen.«
Aus dem wettergegerbten Gesicht leuchteten zu ihrem Erstaunen blassblaue Augen hervor. Sie konnte den Blick nicht von ihm abwenden. Obwohl er menschliche Hautfarbe besaß, schimmerte auf seinem Gesicht noch die Maserung des Hexenholzes durch. Offenbar war seine Haut nicht weich, auch wenn sie so aussah. Alise ertappte sich, dass sie ihn anstarrte, und sah schnell weg. »Eigentlich heiße ich Alise Finbok«, sagte sie und wunderte sich, woher er ihren Mädchennamen wusste. Doch sie verdrängte den beunruhigenden Gedanken und entschloss sich, keck und unverblümt zu sein. »Auch ich bin sehr erfreut, mit Euch sprechen zu können. Ich war mir über das Protokoll nicht ganz sicher. Vielen Dank, dass Ihr mich eingeladen habt.«
Paragon hatte sich wieder von ihr abgewandt und seinen Blick auf den Fluss gerichtet. Er zuckte mit einer entblößten Schulter. »Soweit ich weiß, gibt es kein Protokoll, das vorschreibt, wie man mit einem Lebensschiff zu sprechen hat, außer dem, das jedes Schiff für sich festlegt. Manche Passagiere grüßen mich gleich, bevor sie noch an Bord kommen. Andere richten niemals das Wort an mich. Zumindest nicht absichtlich.« Über die Schulter warf er ihr ein wissendes Grinsen zu, als würde es ihn amüsieren, dass seine Worte ihr Unbehagen bereiteten. »Und einige wenige Passagiere wecken meine Neugier, sodass ich sie bitte, aufs Vorderdeck zu kommen, um mich mit ihnen zu unterhalten.« Wieder kehrte sein Blick zum Fluss zurück.
Alises Herz klopfte schneller, und sie bekam heiße Wangen. Ihr war nicht klar, ob sie sich geschmeichelt oder bedroht fühlte. Wollte das Schiff damit sagen, dass es sich ihres Gesprächs über Drachen bewusst war? Alise hatte seine »Neugier« geweckt, was bei einem Wesen, das eigentlich ein Drache hätte sein sollen, ein großes Kompliment darstellte. Doch neben der Euphorie darüber, dass sie einem so großartigen Geschöpf aufgefallen war, nagten die düsteren Geschichten, die Sedric ihr wieder ins Gedächtnis gerufen hatte. Dies war Paragon , das verrückte Schiff, einst besser bekannt als der Ausgestoßene . In Bingtown hatten alle möglichen Gerüchte über ihn die Runde gemacht, doch dass er seine Mannschaft nicht nur einmal, sondern mehrmals getötet hatte, war eine unbestreitbare Tatsache. Erst jetzt, als sie mit ihm sprach und beobachten konnte, wie vollkommen unabhängig er seinen Weg flussaufwärts wählte, wurde ihr klar, dass sie ihm gänzlich ausgeliefert war. Erst jetzt wurde ihr bewusst, wie lebendig ein Lebensschiff tatsächlich war. Er war ein gefährliches Geschöpf, das man
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