Rain Wild Chronicles 01 - Drachenhüter
ging, damit er den morgigen Tag mit Anstand über die Bühne bringen konnte. Wenn alles gut ging, würde er dabei sein, wenn Alise eine Erlaubnis erhielt, die Drachen zu besuchen und erste Versuche unternahm, mit ihnen zu sprechen. Immerhin hatte sie gesagt, dass sie ihn gern bei sich hätte, um die Gespräche aufzuzeichnen, Notizen zu machen und bei den Skizzen mitzuhelfen, die sie anzufertigen gedachte. Dann wäre er mitten unter den Drachen und würde sie bei ihren Forschungen unterstützen. Wenn das Glück ihm hold war, würde er nicht nur Informationen sammeln. Er schlang die Arme um sich und zog die Decke mit spitzen Fingern über sich. Die Nächte auf dem Fluss waren kalt, stellte er fest, selbst im Sommer. So kalt wie Hest. Doch er würde es ihm zeigen. Ihm zeigen, dass es keineswegs in seiner Absicht lag, sein Leben einzig als Hests Sekretär zu fristen. Er würde klarstellen, dass Sedric Meldar sehr wohl auch selbst Handel treiben konnte, dass er eigene Ziele und Träume hatte. Er würde es ihnen allen zeigen.
Thymara saß auf der nackten Erde und starrte in die Flammen der Kochstelle. »Hätte jemand von uns vor einem Monat gedacht, dass er so etwas tun würde? Dass er Drachen begegnen und sie flussaufwärts begleiten würde? Oder auch nur auf dem Waldboden um ein Feuer sitzen würde?«, fragte sie in den Kreis aus neuen Freunden.
»Ich nicht«, murmelte Tats, der nicht von ihrer Seite wich. Einige lachten zustimmend. Greft, der links neben ihr saß, schüttelte den Kopf. Dabei tanzten seine schwarzen Locken und die Hautlappen, die von seinem Kinn herabhingen. Als er zu ihnen gestoßen war, hatte er einen Schleier getragen. Darüber hatte sich niemand gewundert. In der Regenwildnis war es nicht ungewöhnlich, dass Leute, die stark gezeichnet waren, sich verhüllten, vor allem, wenn sie sich in den unteren Regionen Trehaugs bewegten, wo man auch auf Fremde treffen und entsetzte Blicke auf sich ziehen konnte. Als er am zweiten Abend ohne Schleier bei den Drachenhütern erschienen war, hatte selbst Thymara ihn angestarrt. Greft war deutlicher gezeichnet als irgendein anderer, den sie zuvor gesehen hatte. Schon mit zwanzig hatte er mehr Kehllappen und Auswüchse als selbst die ältesten Leute der Regenwildnis. Zwar waren die Nägel an seinen Fingern und Zehen glatt, doch schillerten sie und waren wie Klauen gebogen. Das Blau seiner Augen sah unnatürlich aus, und nachts leuchtete es bestimmt. Sämtliche sichtbare Hautstellen waren reichlich mit Schuppen überzogen. In seinem lippenlosen Mund verbarg sich eine blaue Zunge. Seine Bewegungen strahlten Gelassenheit und Kompetenz aus, und Thymara fand seine reife und gefestigte Art anziehend. Im Gegensatz zu den anderen Jungen in der Gruppe war er zuverlässig und rücksichtsvoll.
Heute Abend war Greft genauso ruhig wie die anderen. Sie alle waren hin und her gerissen zwischen Vorfreude und Nervosität. Noch eine Tagesreise, bis sie den Drachen endlich begegnen würden.
Das Konzil hatte ihnen stabile Kanus zur Verfügung gestellt, die gut gegen die ätzende Flut versiegelt waren. Dazu hatte man ihnen zwei Führer mitgegeben, einen Mann und eine Frau, die stets getrennt von ihren Schützlingen kochten, aßen und schliefen. Bisher waren sie mit Essen versorgt worden, und einige wenige Hüter hatten sogar die Zeit gefunden, auf dem Weg ihre Fähigkeiten im Jagen und Kundschaften auszutesten und Früchte und Pilze zu sammeln. Allerdings hatten sie feststellen müssen, dass ihre Decken nicht annähernd warm genug waren, um auf dem Boden zu schlafen, und dass unten am Fluss tatsächlich so viele Moskitos herumschwirrten, wie immer behauptet wurde. Sie mussten erfahren, dass die Nächte am Fuß der Bäume dunkler, sternloser und länger waren als oben. Immerhin hatten sie schon gelernt, wie man Trinkwasser aufbewahrte und dass man bei jeder Gelegenheit, die sich einem bot, Regenwasser auffing. Und sie hatten sich gegenseitig vorgestellt und ihre Geschichten erzählt.
Und irgendwie waren sie sich in den wenigen gemeinsamen Tagen nähergekommen.
Jetzt blickte Thymara in die Runde der vom Feuerschein erhellten Gesichter und wunderte sich über ihr Glück. Nie hätte sie sich erträumt, einmal unter so vielen Menschen zu sein, die sie bei ihrem Namen riefen, Essen aus ihrer Hand entgegennahmen, ohne vor ihren Klauen zurückzuzucken, und offen darüber sprachen, was für ein Gefühl es war, von der Regenwildnis so verunstaltet zu sein, dass nicht einmal die eigenen
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