Rain Wild Chronicles 01 - Drachenhüter
ich habe dir doch gesagt, dass du es nicht verstehen wirst. Im Gegenzug gibt es auch etwas, was ich an dir nicht verstehe. Warum erklärst du uns nicht, weshalb du stromaufwärts gehen willst? Weshalb wirfst du dein Leben in Trehaug weg, um mit einer Bande Ausgestoßener und Außenseiter wie uns ins Ungewisse aufzubrechen?« Grefts Frage klang beinahe freundlich.
Auf der anderen Seite des Feuers feierte Boxter seinen Sieg. Harrikin fiel in den Morast und rollte sich nach hinten. »Ich gebe auf!«, rief er in den Chor von Gelächter hinein. Beide nahmen ihre Plätze im Kreis wieder ein. Nach und nach ebbte das Gelächter ab, und Stille machte sich breit, bis alle bemerkt hatten, wie Tats und Greft sich anstarrten.
Tats Stimme war tiefer als sonst. »Vielleicht sehe ich die Sache nicht so. Und vielleicht wurde ich in meinem Leben auch gar nicht so bevorzugt, wie du es dir einbildest. Womöglich verstehe ich sogar, warum du Trehaug den Rücken kehren und an einen Ort willst, wo du die Regeln nach deinem Geschmack ändern kannst. Kann gut sein, dass das die meisten von uns vorhaben. Aber ich glaube nicht, dass meine erste Regel heißen wird: ›Ich zuerst.‹«
Nach Tats Worten herrschte Schweigen, das nicht nur die drei erfasste. Das Feuer knisterte. In der Dunkelheit schwirrten Moskitos, und der Fluss rauschte wie eh und je an ihnen vorbei. Aus der Ferne hörte man den schrillen Schrei eines Tiers. Dann war es wieder ruhig. Thymara sah sich in der Runde um und stellte fest, dass die Drachenhüter das Gespräch verfolgt hatten. Plötzlich fühlte sie sich zwischen Greft und Tats gefangen und unwohl, als wäre sie ein Territorium, das von einer der beiden Seiten gewonnen werden wollte. Sie rückte ein Stück von Tats weg. Wo er sie berührt hatte, spürte sie jetzt die kühle Luft.
Greft holte Atem, als wolle er eine wütende Erwiderung ausstoßen. Doch dann entließ er die Luft mit einem langen Seufzer. Mit ruhiger, leiser und angenehmer Stimme sagte er: »Ich hatte recht. Du verstehst nicht, was ich meine, weil du nicht erlebt hast, was ich erlebt habe. Was wir alle erlebt haben.« Bei den letzten Worten sprach er lauter, damit alle hören konnten, was er Tats entgegnete. Nach einer Pause und einem Lächeln fügte er hinzu: »Du bist einfach nicht wie wir. Deshalb kannst du wohl auch nicht wirklich verstehen, weshalb wir hier sind. Genauso wenig, wie ich verstehen kann, weshalb du hier bist.« Obwohl er nicht sonderlich laut weitersprach, war es für alle vernehmbar. »Das Konzil hat nach Regenwildleuten wie uns gesucht. Nach Leuten, die man loswerden wollte. Aber wie ich hörte, haben sie zum Beispiel auch Verbrechern Straferlass versprochen. Anscheinend bot man gewissen Leuten die Möglichkeit, Trehaug zu verlassen, anstatt die Konsequenzen für ihre Taten erdulden zu müssen.«
Greft ließ seine Worte in der Nachtluft schweben wie die Rauschschwaden des Feuers. »Ich habe keine Ahnung, wovon du sprichst«, sagte Tats nicht sehr überzeugend. »Ich jedenfalls habe nur gehört, dass es gut bezahlt wird. Und dass sie Leute suchten, die keine starken Bindungen zu Trehaug haben. Die die Stadt verlassen können, ohne dabei Verpflichtungen zurückzulassen. Und die Beschreibung traf auf mich zu.«
»Wirklich?«, fragte Greft höflich.
Jetzt war es an Tats, sich im Kreis umzusehen und festzustellen, dass sämtliche Blicke auf ihm ruhten. Einige verfolgten einfach nur das Gespräch, doch in manchen Augen blitzte bereits Argwohn auf. »Ja, das tat sie«, erwiderte Tats scharf. Unvermittelt stand er auf. »Tut sie immer noch. Ich habe keinerlei Bindungen. Und die Bezahlung ist gut. Ich habe genauso das Recht, hier zu sein, wie ein jeder von euch.« Er wandte sich von ihnen ab. »Muss pissen«, murmelte er und stapfte in die Dunkelheit.
Thymara saß schweigend da. Der Leere, wo vorher Tats gesessen hatte, war fühlbar. Hier war etwas geschehen, etwas, das bedeutender war als das Wortgefecht zwischen den beiden jungen Männern. Es gelang ihr nicht, es zu benennen. Er hat die Verhältnisse verändert, dachte sie bei sich, während sie Greft beobachtete. Er beugte sich vor, um das Feuerholz zusammenzuschieben. Er hat aus Tats einen Außenseiter gemacht. Und er hat so getan, als habe er das Recht, für uns alle zu sprechen. Mit einem Schlag erschien er ihr nicht mehr ganz so liebenswürdig wie noch vor wenigen Augenblicken.
Greft nahm seine frühere Haltung ein und lächelte sie an. Doch sie ging nicht darauf ein. Im
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