Rain Wild Chronicles 01 - Drachenhüter
genug. Doch dann hatten ihn die Stechmücken summend umschwirrt, und er hatte die Flucht ergriffen.
Er zog die Stiefel aus und stellte sie neben die Pritsche. Seinen Mantel faltete er zusammen und legte ihn widerwillig aufs Fußende des Betts. Dann legte er sich in Kleidern auf die dünne Matratze und die Decken. Das Kissen schien nicht mehr als ein etwas dickerer Klumpen zu sein und roch stark nach demjenigen, der zuvor darauf gelegen hatte. Sedric setzte sich auf, griff nach seinem Mantel und legte ihn sich unter den Kopf. »Nur für zwei Tage«, redete er sich flüsternd zu. Zwei Tage lang würde er dies schon aushalten, oder nicht? Dann würde der Kahn in Cassarick anlegen, sie würden an Land gehen, und Alise würde, da war er überzeugt, irgendwie an die Erlaubnis gelangen, die Drachen zu studieren. Ausgestattet mit ihren Empfehlungsschreiben würde er dort ebenfalls die Zeit verbringen und auf seine Gelegenheit warten. Nicht länger als sechs Tage würden sie dortbleiben, mehr als genug Zeit, wie er ihr schon versichert hatte. Dann würden sie nach Trehaug zurückkehren, Paragon besteigen und zurück nach Bingtown fahren. Und in seine neue Zukunft.
Nach Hause. Er vermisste es so sehr. Saubere Bettwäsche und große, luftige Räume, schmackhaft zubereitetes Essen und frisch gewaschene Kleider. War das denn zu viel verlangt? Dass die Dinge sauber und angenehm waren? Dass die Tischgenossen nicht mit offenem Mund kauten oder dem Kater erlaubten, Fleischstücke von ihren Tellern zu klauen? »Ich mag es einfach, wenn die Dinge sauber sind«, lamentierte er im Dunkeln vor sich hin, zuckte aber sogleich zusammen angesichts der Erinnerung, die diese Worte in ihm auslösten.
Er sah es ganz deutlich vor sich. Er hatte sich breitschultrig hingestellt, tief durchgeatmet und sich rundweg verweigert. »Ich will nicht gehen.«
»Das wird dich zu einem Mann machen!«, hatte sein Vater beharrlich auf ihn eingeredet. »Und es ist eine große Gelegenheit für dich, Sedric. Eine Gelegenheit, dich nicht nur vor dir selbst zu beweisen, sondern auch vor einem Mann, der dich in Bingtown weiterbringen kann. Ich habe einige Beziehungen spielen lassen, um dir das zu ermöglichen. Die Hälfte von Bingtowns jungen Männern würde im Kreis springen, um an diese Gelegenheit zu kommen. Händler Marley hat auf seinem neuen Schiff eine Stelle als Decksgehilfe frei. Dort wärst du nicht alleine. Andere Jungen in deinem Alter leben an Bord und lernen, wie man an Deck arbeitet. Die Freundschaften, die du dort schließt, halten ein Leben lang! Arbeite hart, mach den Kapitän auf dich aufmerksam, und es könnte am Ende zu Größerem führen. Händler Marley ist ein reicher Mann, nicht nur was Schiffe und Geld angeht, sondern er hat auch viele Töchter. Wenn du bei ihm Gefallen findest, tja, dann kann dir die Zukunft so manches bringen.«
»Tracia Marley ist ein sehr hübsches Mädchen«, warf seine Mutter unterstützend ein.
Unter den Blicken seiner hoffnungsvollen Eltern hatte er sich wie in einer Falle gefühlt. Seine zahlreichen Schwestern hatten ihren Tee bereits ausgetrunken und waren davongeeilt. In den Garten oder das Musikzimmer oder zu ihren Freundinnen. Nur er allein saß noch am Tisch, von den Träumen seiner Eltern eingekesselt. Träume, die er nicht mitträumen konnte.
»Aber ich will nicht auf einem Schiff arbeiten«, hatte er vorsichtig zu sagen gewagt. Und als der Mund seines Vaters schmäler geworden war und sein Blick sich verfinstert hatte, hatte er hastig hinzugesetzt: »Ich arbeite gerne. Wirklich. Aber warum kann ich nicht in einem Geschäft oder einer Kanzlei arbeiten? Wo es sauber und hell ist, mit angenehmen Leuten.« Mit einem Blick zu seiner Mutter fügte er hinzu: »Es wäre schrecklich für mich, so lange von meiner Familie getrennt zu sein. Oft sind die Schiffe monatelang nicht in Bingtown, manchmal sogar Jahre. Wie sollte ich es ertragen, euch so lange nicht zu sehen?«
Ihre Mutter verzog die Lippen und bekam feuchte Augen. Mit solchen Reden vermochte er sie vielleicht zu gewinnen. Doch sein Vater blieb unbeeindruckt. »Es ist Zeit, dass du mal auf dich alleine gestellt bist, Sohn. Schule ist schön und gut, und ich bin froh, dass mein Sohn lesen, schreiben und rechnen kann. Hätten unsere Geschäfte in den letzten Jahren nicht so sehr gelitten, würde das womöglich sogar ausreichen. Doch unsere Anteile haben keinen Gewinn abgeworfen, deshalb musst du in die Welt hinaus und dein eigenes Glück suchen. Etwas,
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