Rain Wild Chronicles 01 - Drachenhüter
ihr schwer ums Herz. Sie würde Kreaturen füttern und verpflegen, denen sie ein Ärgernis war und die sie mit einer lässigen Bewegung töten konnten. Ihre Mutter war wenigstens eine Spur kleiner gewesen als sie selbst. Der Gedanke, dass sie lieber mit ihrer Mutter als mit einem übellaunigen Drachen reisen würde, entlockte ihr ein bitteres Lächeln.
Der Atem der Drachin streifte brausend ihr Ohr. »Nun?«
»Ich habe nichts gesagt«, sagte sie leise. Sie wollte sich davonmachen, allerdings nicht, solange die Drachin den Blick auf sie gerichtet hatte.
»Das ist mir bewusst. Du hast also noch nie von Kelsingra gehört? Das bedeutet noch lange nicht, dass es nicht existiert. Mir scheint, dass die Wahrscheinlichkeit, es zu finden, auch nicht geringer ist, als eure ›offenen Weiden‹, mit ›trockenem Land und reichlich Wild‹ zu entdecken. Denn wenn ein Regenwildling je von einem solchen gehört hätte, gäbe es dort längst eine Siedlung.«
»Das stimmt«, pflichtete Thymara ihr widerstrebend bei und fragte sich, weshalb sie darüber nicht schon eher nachgedacht hatte. Weil der Ausschuss, der sich angeblich aus älteren und erfahreneren Regenwildleuten zusammensetzte, ihr gesagt hatte, dass sie das vorfinden würde. Aber wussten sie es denn? Kein Einziger von ihnen sah aus wie ein Jäger oder Sammler. Vielmehr wirkten die meisten, als wären sie noch nie auch nur ins Blätterdach hinaufgestiegen, geschweige denn, dass sie die Flussufer erkundet hätten. Was, wenn es einen solchen Ort nicht gab? Was, wenn dies alles nur ein Vorwand war, um die Drachen und ihre Hüter aus Cassarick wegzuschaffen?
Sie verdrängte den Gedanken, denn er machte ihr Angst. Nicht nur, weil sie befürchtete, er könnte sich als wahr erweisen, sondern weil ihr plötzlich klar wurde, dass die Leute, mit denen sie einen Vertrag geschlossen hatten, durchaus in der Lage waren, die Drachen und ihre Hüter zu einer endlosen Reise entlang des sumpfigen Flussufers zu verdammen. »Warum seid ihr euch so sicher, dass dieses Kerlinger existiert?«, fragte sie die große blaue Drachin.
»Wenn du über Kelsingra reden willst, dann sprich es wenigstens richtig aus. Du gehst sehr achtlos mit Worten um. Vermutlich haben es Geschöpfe mit einem kleinen Hirn wie dem deinen schwerer, sich Dinge zu merken. Woher wir wissen, dass Kelsingra existiert? Im Gegensatz zu dir erinnern wir uns.«
»Aber ihr habt diesen Strand niemals verlassen.«
»Wir tragen die Erinnerungen unserer Ahnen in uns. Nun ja, zumindest einige von uns haben ein paar Erinnerungen. An Kelsingra erinnern sich mehrere von uns. An die Stadt am breiten, sonnigen Ufer. An das süße, silberne Wasser ihrer Quelle. An die Plätze und Paläste, die so gebaut waren, dass sowohl Drachen als auch ihre Verbündeten, die Elderlinge, sie nutzen konnten. An die fruchtbaren Weiden voll grasendem Vieh.« Die Stimme der Drachin klang verträumt, und kurz hatte Thymara den Eindruck, das Verlangen der Kreatur nach dem warmen Blut und dem saftigen Fleisch eines fetten Rinds zu spüren. Und danach ein Bad und ein langes Nickerchen am weißen Sandstrand. Thymara schüttelte den Kopf, um die Bilder loszuwerden.
»Was?«, fragte die Drachin.
»Die einzigen Elderlingsstädte, die wir entdeckt haben, sind unter Schlammmassen begraben. Ihre Bewohner sind schon lange tot. Die Bildteppiche und Gemälde, die sie zurückließen, zeigen uns einen Ort, der sich von der heutigen Regenwildnis so sehr unterscheidet, dass die Gelehrten schon lange der Meinung sind, dass darauf nicht die einstigen Städte abgebildet sind, sondern eine Elderlingsheimat tief im Süden.«
»Dann irren sich eure Gelehrten«, erwiderte die Drachin entschieden. »Unsere Erinnerungen mögen unvollständig sein, aber ich kann dir sagen, dass das Cassarick, an das ich mich erinnere, an einem tiefen, schnell fließenden Strom lag, der zahmere Nebenarme hatte und dessen breite Ufer aus von Silber durchzogenem Lehm bestanden. Der Fluss war tief genug, dass Schlangen mühelos stromaufwärts wandern konnten. Auch die Schiffe der Elderlinge konnten ihn bis Cassarick befahren und sogar noch weiter hinauf zu anderen Städten am Fluss. Cassarick selbst war nicht groß, doch gab es auch hier Wunderwerke. Bekannt war es vor allem als Ausweichmöglichkeit für Schlangen, die sich einspinnen wollten, aber an den Ufern dessen, was ihr heute Trehaug nennt, keinen Platz mehr gefunden hatten. Das passierte nicht in jedem Jahr der Wanderschaft, aber hin und
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