Rain Wild Chronicles 01 - Drachenhüter
blau und hatte silberne Male auf den verkümmerten Flügeln. Schuppenkränze schmückten ihren Hals wie die Krausen an den Kleidern reicher Damen. Trotz ihrer zu klein geratenen Schwingen war sie eine der besser entwickelten Drachen. Eine, die überleben würde, hatte Thymara entschieden und war sofort auf sie zugegangen. Jetzt fragte sie sich, ob sie eine schlechte Wahl getroffen hatte. Die blaue Drachin wirkte nicht besonders freundlich, und sie war groß. Der Art und Weise nach zu schließen, wie sie die Karrenladung Fleisch hinuntergeschlungen hatte, war es eine Herausforderung, ihren Hunger zu stillen. Nein, sogar eine Unmöglichkeit, schwante ihr mit zunehmender Bestürzung. Was ihr in Trehaug noch als machbar erschienen war, stellte sich nun als hoffnungslose Aufgabe heraus. Sollte sie allein für die Ernährung eines Drachen verantwortlich sein, würde dieser Drache die meiste Zeit Hunger leiden müssen.
Und selbst mit vollem Magen schien diese Drachin keine sonderlich gute Laune zu haben. Wie wäre das erst, wenn sie hungrig war und müde von einer anstrengenden Tagesreise? Zögernd ließ Thymara den Blick über die anderen Drachen schweifen, um sich einen besseren Kandidaten auszusuchen. Offenbar mochte dieses Exemplar hier sie überhaupt nicht.
Aber die anderen Drachenhüter hatten sich inzwischen ein Herz gefasst und strömten aus, um sich unter die Herde zu mischen. Kase und Boxter gingen auf zwei orangefarbene Drachen zu. Kurz fragte sie sich, ob die beiden Vettern immer ähnliche Entscheidungen trafen. Mit hinter dem Rücken gefalteten Händen und schüchtern gesenktem Kopf sprach Sylve leise mit einem goldfarbenen Männchen. Eben hob der Golddrache den Kopf, und Thymara sah, dass er eine blau-weiße Kehle hatte. Jerd stand neben einem grünen Weibchen mit goldener Punktierung. Während die anderen Hüter sich verteilten, zählte Thymara die Drachen durch. Sie waren nicht genug Hüter. Es blieben zwei Drachen übrig. Das könnte Ärger geben.
»Warum bist du hier? Was soll diese Invasion?«
Die Drachin klang verärgert, als hätte Thymara sie beleidigt. Das Mädchen war verwirrt. »Was? Hat euch niemand gesagt, dass wir kommen würden?«
»Wer sollte uns was gesagt haben?«
»Der Ausschuss. Es gab einen Ausschuss der Regenwildnis für die Lösung des Drachenproblems. Sie beschlossen, dass es am besten wäre, wenn alle Drachen flussaufwärts gebracht und an einem besseren Ort angesiedelt würden. Irgendwo, wo es offene Weiden, trockenes Land und reichlich Wild gibt.«
»Nein«, gab die Drachin trocken zurück.
»Aber …«
»Das haben nicht sie entschieden. Kein Mensch hat über uns zu entscheiden. Wir haben den Menschen, die uns verpflegen, gesagt, dass wir hier wegwollen und dass wir ihre Dienste benötigen. Sie sollten uns Jäger und Hüter für die Reise zur Verfügung stellen. Wir haben sie wissen lassen, dass wir nach Kelsingra zurückkehren wollen. Hast du davon gehört, kleiner Wicht? Das war eine Elderlingsstadt, ein Ort der Sonne inmitten offener Felder und mit Sandstränden. Die Elderlinge, die dort lebten, waren äußerst kultiviert und gebildet und hatten große Hochachtung vor den Drachen. Sogar die Häuser dort waren groß genug für uns. In der Ebene wimmelte es von Vieh und Wild. Dort wollen wir hin.«
»Von diesem Ort habe ich noch nie gehört«, sagte sie zögerlich, weil sie Angst hatte, die Drachin zu beleidigen.
»Was du gehört oder nicht gehört hast, interessiert mich herzlich wenig.« Die Drachin wandte sich von ihr ab. »Dorthin werden wir reisen.«
Es hatte keinen Zweck. Thymara sah sich ohne große Hoffnung um. Zwei Drachen blieben ohne Hüter. Die beiden schlammverschmierten Geschöpfe schnüffelten dumm und mit stumpfem Blick an den leeren Karren herum. Der Silberne hatte am Schwanz eine eiternde Entzündung, während der andere so schmutzig war, dass er graubraun wirkte, obwohl er ursprünglich wahrscheinlich einmal kupferrot gewesen war. Er war ausgemergelt, weshalb Thymara annahm, dass er Würmer hatte. Nüchtern betrachtet würde keiner von den beiden die Reise stromaufwärts überleben. Aber vielleicht spielte das keine Rolle. Ihr war inzwischen klar, dass es eine kindische Fantasterei gewesen war, sich mit dem Drachen, den sie begleitete, anzufreunden. Was für ein alberner Traum, diese Freundschaft mit einem mächtigen und edlen Geschöpf. Nun korrigierte sie ihre Erwartungen an diese Expedition, und unter der Last der erdrückenden Wirklichkeit wurde
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