Rain Wild Chronicles 01 - Drachenhüter
hatte. Damit belegte er nicht nur seinen eigenen, sondern auch ihren Liegeplatz. Seine langen, dürren Beine zuckten im Schlaf. Zwischen ihm und der Stelle, wo sie stand, schlummerten einige der kleineren und geringeren Drachen. Ihre Schuppen waren mit Schlamm verschmiert, und sie lagen so eng beieinander wie die Zehen eines Fußes.
Sintara schenkte ihnen keine Beachtung, als sie über die Kümmerlinge hinwegstieg. Ein Kreischen ertönte, und zwei andere stießen ein verschlafenes Knurren aus, als Sintara auf sie trat. Einer wälzte sich unter ihren Klauen, sodass sie das Gleichgewicht verlor. Um sich wieder zu fangen, peitschte sie mit ihrem Schwanz und schlug mit den noch immer nassen Flügeln. Ein kalter Sprühregen ging auf die Schläfer hernieder, was unterdrücktes Knurren und Zähnefletschen zur Folge hatte. Doch keiner wagte es, sie ernsthaft herauszufordern. An ihrem Liegeplatz angekommen, trat sie absichtlich auf Sesticans blauen Flügel und nagelte ihn am Boden fest.
Erschrocken brüllte dieser auf und versuchte, sich mit einer Seitwärtsdrehung zu befreien. Sie drückte die Schwinge aber umso kräftiger nieder und strapazierte mit voller Absicht seine zerbrechlichen Knochen. »Du liegst auf meinem Platz«, knurrte sie.
»Geh von mir runter!«, fauchte er zurück. Sie hob die Pranke gerade so weit, dass er seinen verstauchten Flügel darunter hervorziehen konnte. Als er ihn an seinen Leib presste, ließ sie sich auf den staubigen Boden sinken. Noch immer war sie verärgert, denn die Stelle war zwar von seinem Körper angewärmt, aber nicht von der Sonne erhitzt, wie sie es sich ausgemalt hatte. Dennoch legte sie sich hin, allerdings nicht ohne Veras noch einen Tritt zu verpassen, um mehr Platz zu gewinnen. Die dunkelgrüne Drachin wälzte sich herum, fletschte die mickrigen Zähne und döste dann weiter.
»Lege dich nie wieder auf meinen Platz«, warnte Sintara den großen kobaltblauen Drachen. Sie suchte eine bequeme Lage und rollte ihren Schwanz ein, anstatt ihn von sich zu strecken, wie sie es gern getan hätte. Kaum hatte sie den Kopf auf die Vorderpranken gelegt, als Sestican jäh auf die Beine sprang. Sintara knurrte, als sein Schatten auf sie fiel. Einer der kleineren Drachen am Rand der Herde hob verschlafen den Kopf und fragte dümmlich: »Essen?«
Es war nicht Essenszeit. Jetzt hoben sich weitere Köpfe, und andere Drachen rollten sich auf den Bauch oder sprangen auf. Es entstand ein Gerangel, weil jeder sehen wollte, wer sich dem Strand näherte.
»Ist das jetzt Essen, oder was?«, fragte Fente verärgert.
»Kommt darauf an, wie hungrig du bist«, gab Veras zurück. »Kleine Boote voller Menschen. Eben ziehen sie die Boote ans Ufer.«
»Ich rieche Fleisch!«, verkündete Kalo, doch noch ehe er zu Ende gesprochen hatte, war die Herde bereits in Bewegung. Sintara rammte Fente mit der Schulter aus der Bahn, worauf das gehässige grüne Biest nach ihr schnappte. Im Vorbeigehen schlug Sintara mit dem Schwanz nach ihr, verzichtete aber auf weitere Vergeltungsmaßnahmen. Als Erste beim Futter anzukommen, war im Moment weitaus wichtiger als ihre Rachegelüste. Sintara sammelte all ihre Kraft und setzte über Veras hinweg. Dabei schlug sie unwillkürlich mit den verkümmerten Flügeln, doch es brachte ihr nichts. Schnell klappte die Drachin sie wieder ein und galoppierte stolpernd zum Fluss hinunter.
Furchtsam drängten sich die jungen Menschen am Ufer zusammen. Einer kreischte und rannte zu den Booten zurück. Als die Drachen näher kamen, taten es ihm drei weitere Menschen nach. Über den schmalen Pfad, der in den Wald und zu den Leitern führte, über die man in die Baumnester gelangte, kamen weitere Menschen an den Strand. Sintara schnappte den vertrauten Geruch eines ihrer Jäger auf. Mit lauter Stimme rief dieser den Menschen aus den Booten zu: »Es ist alles gut. Sie riechen das Futter, das ist alles. Lauft nicht weg und lernt sie kennen. Deshalb seid ihr schließlich hier. Wir haben genug Futter für alle. Lasst sie uns zuerst füttern, und dann geht ihr herum und lasst euch von ihnen begrüßen. Lauft nicht weg!«
Sintara konnte die Angst der Menschen riechen. Im Vorbeilaufen bemerkte sie, dass es sich vor allem um Kinder handelte. Sie redeten laut und mit hohen Stimmen, stellten Fragen und kreischten sich Warnungen zu. Dann tauchten die anderen Jäger aus dem Wald auf. Sie schoben Karren, und auf jedem türmten sich Fleisch und Fisch, mehr als die Drachen normalerweise bekamen.
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