Rain Wild Chronicles 01 - Drachenhüter
verursacht hatte, sie waren grundfalsch. Die armen Kreaturen vermochten sich kaum fortzubewegen. Thymara spürte die Verwirrung des jungen Drachen, die sich in den körperlichen Schmerz mischte. Nur mit Mühe konnte sie ihren Geist von der Verwirrung des Drachen losreißen.
Als sie die Augen öffnete, ließ neuer Schrecken sie erstarren. Ihr Vater war vom Baum heruntergestiegen. Zwischen den Kokons hindurch suchte er sich einen Weg auf das gestürzte Tier zu. Von ihrer Warte aus erkannte Thymara, dass der Drache bereits tot war. Im nächsten Augenblick wurde ihr bewusst, dass sie dies nicht mit ihren Augen gesehen, sondern seinen Tod gespürt hatte. Ihr Vater dagegen bemerkte es nicht. Besorgnis und Mitleid waren ihm ins Gesicht geschrieben. Sie kannte ihn, er würde der Kreatur helfen, wenn er konnte. So war er nun einmal.
Thymara war nicht die Einzige, die den Tod des Wesens gespürt hatte. Von dem Reh war nur noch eine schlammige Blutlache im zertrampelten Ufermorast geblieben. Jetzt hoben die beiden jungen Drachen die Köpfe und wandten sich dem verunglückten Drachen zu. Auch ein frisch geschlüpfter roter Drache mit einem unnatürlich kurzen Schwanz torkelte auf die Leiche zu. Da stieß der Gelbe ein tiefes Fauchen aus und wurde schneller. Mit weit aufgerissenem Kiefer ließ der Grüne einen Laut vernehmen, der weder Brüllen noch Zischen war. Dabei spuckte er Speichelklumpen hervor, die kraftlos von seiner Schnauze zu Boden tropften. Aber eigentlich hatte er auf Thymaras Vater gezielt. Sa sei Dank war er nicht ausgewachsen und vermochte keine Giftwolke auszuspeien. Denn Thymara wusste, dass ausgewachsene Drachen dazu in der Lage waren. Sie hatte gehört, wie Tintaglia in der Schlacht um Bingtown ihren Drachenodem gegen die Chalcedaner eingesetzt hatte. Drachengift fraß sich augenblicklich durch Fleisch und Knochen.
Obschon die Kraft des grünen Drachen nicht ausgereicht hatte, ihren Vater mit seinem Odem zu versengen, so hatte das kriegerische Gebaren doch den roten Drachen mit dem kurzen Schwanz auf den Menschen aufmerksam werden lassen. Ohne Zögern eilten der Gelbe und der Grüne auf das tote Junge zu und knurrten sich gegenseitig an, um dem anderen die Beute abspenstig zu machen. Auch der Rote kam näher.
Thymara hatte angenommen, ihr Vater würde erkennen, dass das Jungtier tot und ihm nicht mehr zu helfen war. Als vernünftiger Mann hätte er sich doch angesichts der Gefahr, die die jungen Drachen darstellten, zurückziehen müssen. Hundertmal, tausendmal hatte ihr Vater ihr gepredigt, sie solle vorsichtig sein, wenn sie es mit Raubtieren zu tun hatte. »Wenn du Fleisch hast, und eine Baumkatze hat es darauf abgesehen, dann lege das Fleisch auf den Boden und ziehe dich zurück. Fleisch bekommst du jederzeit. Dein Leben dagegen bekommst du nicht wieder.« Daher würde er gewiss umdrehen, wenn er den roten Drachen mit seinem waagrecht abstehenden Schwanzstummel auf sich zutraben sah.
Doch er hatte kein Auge für den Roten. Nur für das gestürzte Jungtier. Und als die beiden anderen Drachen näher kamen, rief er ihnen zu: »Nein! Lasst ihn zufrieden, gebt ihm eine Chance! Gebt ihm eine Chance!« Er wedelte mit den Armen, als wolle er Aasgeier von seiner Jagdbeute vertreiben, und rannte weiter. Was willst du denn machen?, wollte Thymara ihn fragen. Die Jungdrachen überragten ihn. Auch wenn sie nicht in der Lage waren, Feuer zu speien, konnten sie doch schon mit ihren Zähnen und Klauen umgehen.
»Pa! Nein! Er ist tot, er ist doch schon tot! Pa, lauf, lauf da weg, schnell!«
Er hörte sie. Als er ihre Worte vernahm, blieb er stehen und sah sogar zu ihr auf.
»Pa, er ist tot, du kannst ihm nicht helfen. Geh da weg. Links von dir! Pa, links von dir, der Rote! Lauf schnell weg!«
Der gelbe und der grüne Drache waren bereits mit dem Kadaver ihres Artgenossen beschäftigt. Mit derselben Gier wie bei dem Reh schlugen sie ihre Zähne in das Tier. Offenbar hatte die vorherige Mahlzeit sie gestärkt, sodass sie sich inzwischen um die besten Happen zankten. Solange die beiden sich gegenseitig im Zaum hielten, waren sie Thymara herzlich egal. Es war der Rote, der ungelenk, aber flink auf ihren Vater zutaumelte, der sie in Schrecken versetzte. Mittlerweile hatte ihr Vater erkannt, in welcher Gefahr er schwebte. Allerdings tat er genau das, was sie befürchtet hatte – er wandte einen Trick an, der bei Baumkatzen in der Regel funktionierte. Er öffnete sein Hemd, packte mit jeder Hand einen Zipfel und hielt
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