Rain Wild Chronicles 01 - Drachenhüter
die beiden Hemdhälften weit ausgespannt vom Körper weg. »Mach dich groß, wenn dich etwas bedroht«, hatte er ihr oft geraten. »Nimm eine Gestalt an, die dem Tier fremd ist, dann wird es zurückhaltender. Manchmal kuscht es sogar, wenn du groß genug erscheinst. Aber lauf auf keinen Fall davon. Behalte es im Auge und weiche ganz langsam zurück. Die meisten Katzen lieben die Jagd, deshalb darfst du dich nicht auf dieses Spielchen einlassen.«
Hier handelte es sich jedoch nicht um eine Katze. Sondern um einen Drachen, der seinen Rachen weit aufgesperrt hatte. Weiße scharfe Zähne blitzen darin. Die Kreatur war einzig von Hunger getrieben, und obwohl Thymaras Vater tatsächlich größer wirkte, zeigte der Drache keine Furcht. Vielmehr hörte, nein, spürte Thymara die freudige Neugier. Fleisch. Großes Fleisch. Fressen! Hunger wütete in dem Tier, das auf den zurückweichenden Mann zustolperte.
»Kein Fleisch!«, rief Thymara zu dem Drachen hinunter. »Kein Fressen. Kein Fressen. Pa, dreh dich um und lauf weg! Lauf schon!«
Zwei Wunder ereigneten sich gleichzeitig. Das eine war, dass der junge Drache sie verstand. Verblüfft fuhr sein Kopf mit der stumpfen Schnauze zu ihr herum. Als er sich zu ihr umwandte, verlor er das Gleichgewicht und taumelte täppisch im Kreis herum. Da bemerkte Thymara etwas, was ihr bisher entgangen war. Auch dieser Drache war missgestaltet, denn einer seiner Hinterläufe war erheblich kürzer als der andere. Kein Fressen?, hörte sie den traurigen Widerhall ihrer eigenen Worte. Kein Fleisch? Kein Fleisch? In diesem Moment brach ihr vor Mitgefühl mit dem roten Jungen fast das Herz. Kein Fleisch. Nur Hunger. Während sie für Augenblicke eins mit dem Tier war, teilte sie seinen Hunger und seine Verzweiflung.
Doch das zweite Wunder riss sie aus der Verschmelzung. Ihr Vater hatte auf sie gehört. Er hatte die Arme heruntergenommen, sich umgewandt und war zu den Bäumen zurückgerannt. Thymara sah, wie er sich unter den Kiefern eines kleinen blauen Drachen hinwegduckte, der nach ihm schnappte. Endlich erreichte er den Stamm, und aufgrund jahrelanger Übung kletterte er daran beinahe so schnell hoch, wie er über den Sand gerannt war. Nach einigen Augenblicken war er vor jedem Drachen sicher. Und das war auch gut so, denn der kleine Blaue war hoffnungsvoll hinter ihm hergetrottet. Jetzt stand er am Fuß des Baums und schnüffelte schnaubend an der Stelle, wo ihr Vater hochgeklettert war. Neugierig biss der Drache in den Stamm, wich aber sogleich zurück und schüttelte den Kopf. Kein Fleisch!, urteilte er energisch und wackelte davon. Über das ganze Ufer verteilt krochen weitere Drachen aus den Hexenholzhüllen. Thymara beobachtete den blauen Drachen nicht weiter, sondern glitt auf ihrem Ast zurück. Wo er breiter wurde, stützte sie sich erst auf einem Knie ab, dann stand sie vollends auf und lief zum Baumstamm. Dort gelangte sie im selben Moment an wie ihr Vater, griff nach dessen Arm und vergrub ihr Gesicht an seiner Schulter. Er roch nach Angstschweiß.
»Pa, was hast du dir bloß dabei gedacht?«, fragte sie und war über die Wut in ihrer Stimme erschrocken. Im nächsten Moment wurde ihr bewusst, dass sie allen Grund hatte, wütend zu sein. »Wenn ich das getan hätte, wärest du ausgerastet! Wieso bist du denn da runtergegangen? Was hast du denn geglaubt, damit erreichen zu können?«
»Noch ein Stück weiter hinauf!«, keuchte ihr Vater, und sie folgte ihm nur zu gern auf einen höheren Ast. Der Ast war sehr dick und wuchs beinahe waagerecht aus dem Stamm. Dort konnten sie sich nebeneinander hinsetzen. Noch immer keuchte ihr Vater vor Angst oder Anstrengung oder einer Mischung aus beiden. Sie holte den Wasserschlauch aus ihrem Ranzen und streckte ihn ihrem Vater hin. Dankbar griff er danach und nahm einige kräftige Schlucke.
»Die hätten dich töten können.«
Er nahm den Schlauch herunter, verschloss das Mundstück mit einem Stopfen und gab ihr das Wasser zurück. »Das sind noch Babies. Tollpatschige Babies. Ich wäre schon davongekommen. Ich bin ja auch davongekommen.«
»Das sind keine Babies! Das waren schon keine Babies mehr, als sie sich in ihre Kokons zurückgezogen haben, und jetzt sind es richtige Drachen. Tintaglia konnte wenige Stunden nach dem Schlüpfen bereits fliegen. Fliegen und Beute erlegen.« Während sie sprach, deutete sie nach oben, wo man durch das Blätterdach etwas Blau-Silberfarbenes vorbeiziehen sah. Plötzlich stürzte es herab, und die Drachin
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