Rain Wild Chronicles 01 - Drachenhüter
und faltete sie zusammen wie ein Vogel, der seine Flügel anlegt. Die schuppigen Federn verschmolzen übergangslos mit ihrer Haut. Dann ließ sie das erschlaffte Reh zu Boden fallen, das sie zwischen die Kiefern geklemmt hatte. »Fresst«, befahl sie den jungen Drachen. Ohne die Reaktion der frisch geschlüpften Kreaturen abzuwarten, trottete sie zum Fluss. Dort senkte sie den gewaltigen Kopf und soff von dem milchigen Wasser. Als sie genug hatte, reckte sie den Kopf wieder in die Höhe und klappte die Schwingen ein wenig aus. Ihre kräftigen Hinterläufe zuckten. Dann schnellte sie in die Höhe. Mit zwei hastigen Flügelschlägen hielt sie sich in ei nigem Abstand vom Boden in der Luft. Mit weiteren schweren Schlägen gewann sie langsam an Höhe, entfernte sich vom Ufer, flog den Fluss hinauf davon und ging erneut auf die Jagd.
»Oh.« Die tiefe Stimme ihres Vaters war voller Bedauern. »Wie schade.«
Noch immer zerrte die Drachin unter Thymaras Ast klebrige Streifen Hexenholz aus der grauen Hülle und verschlang sie. An ihrer Schnauze blieb ein Stück davon hängen, und mit der kleinen Klaue am Ende ihres kurzen Vorderlaufs fasste sie danach. Auf Thymara machte sie den Eindruck eines Säuglings, der sich Brei auf Wange und Haar geschmiert hatte. Auch wenn die Drachin kleiner und weniger entwickelt war, als Thymara gedacht hatte, sie würde wachsen und ihrer Bestimmung gerecht werden. Thymara sah zu ihrem Vater zurück und folgte dann seinem von Schrecken erfüllten Blick.
Während sie sich ganz auf das Junge unter ihrem Baum konzentriert hatte, hatten sich andere Drachen aus ihren Kokons befreit. Das erlegte Reh und der Geruch seines warmen Blutes lockten sie an. Zwei Drachen, ein graugelber und ein schmutzig-grüner, waren bereits zu dem Kadaver gewankt und gestolpert. Sie waren so versessen aufs Fressen, dass sie sich nicht darum zankten. Erst bei den letzten Bissen würden sie sich darum streiten, vermutete Thymara. Aber zunächst setzten sie lediglich die Vorderpranken auf das Reh, beugten sich darüber und rissen Haut- und Fleischstücke aus dem toten Leib. Dann warfen sie den Kopf zurück und schlangen die noch warmen Brocken hinunter. Der gelbe Drache hatte seine Zähne in den weichen Bauch des Tiers geschlagen. Nun hingen Innereien von seinem Kiefer herab und hinterließen rote Striemen an seinem Hals. Es war ein befremdliches Schauspiel, aber nicht befremdlicher als die Fütterung irgendeines anderen Raubtiers.
Wieder sah Thymara zu ihrem Vater, und dieses Mal erkannte sie, worauf sein Blick tatsächlich gerichtet war. Die beiden fressenden Drachen, die sich über den rasch kleiner werdenden Rehkadaver beugten, hatten ihr die Sicht versperrt. Der junge Drache, den ihr Vater beobachtete, vermochte nicht aufrecht zu stehen. Auf dem Bauch kriechend robbte er dahin, denn seine Hinterläufe waren bloße Stummel. Sein Kopf schlenkerte an einem dürren Hals hin und her. Mit einem plötzlichen Zittern fuhr er hoch und hielt sich da zitternd. Selbst seine Farbe schien nicht richtig zu sein. Die Haut war von demselben blassen Grau wie der Lehm, und sie war so dünn, dass die Eingeweide am Bauch weiß hindurchschimmerten. Ganz offensichtlich war der Drache noch nicht vollends entwickelt und zu früh geschlüpft, um überleben zu können. Trotzdem kroch er auf das lockende Fleisch zu. Thymara musste mit ansehen, wie er sich mit einem seiner missgestalteten Hinterläufe zu kräftig abstieß und zur Seite kippte. Törichterweise, oder vielleicht in einem ungeschickten Versuch, sich abzufangen, breitete er die kümmerlichen Schwingen aus. Beim Sturz landete er auf einem der Flügel, der sich in die falsche Richtung bog und hörbar brach. Der Schrei, den das Tier ausstieß, war nicht so laut wie das Heulen der Schmerzen, das in Thymaras Kopf ausbrach. Sie zuckte so heftig zusammen, dass sie beinahe den Halt verlor. Mit geschlossenen Augen und mit aller Macht an den Ast geklammert, versuchte sie, den Brechreiz zu unterdrücken, den die Schmerzen ihr verursachten.
Langsam begriff sie. Das also waren Tintaglias Befürchtungen gewesen. Die Drachin hatte die Kokons vom Sonnenlicht abgeschirmt, in der Hoffnung, den sich darin entwickelnden Drachen eine ausreichende Zeit zum Schlafen verschaffen zu können. Doch obwohl sie bis zum Sommer gewartet hatten, waren sie noch immer zu früh geschlüpft. Oder sie waren bereits zu schwach und ausgemergelt gewesen, als sie sich verpuppt hatten. Was immer auch die Missbildungen
Weitere Kostenlose Bücher