Rain Wild Chronicles 01 - Drachenhüter
setzte zur Landung an. Doch mitten im Sturzflug bremste sie ab, und ihr wilder Flügelschlag erzeugte einen heftigen Luftstoß, der durch Bäume und die Schar der Regenwildleute fuhr. Sie entließ einen weiteren Rehkadaver aus ihren Klauen, der mit einem dumpfen Schlag am Boden aufkam. Ohne zu verharren, flog Tintaglia wieder davon, um weiterzujagen. Sogleich rannten kreischende Drachenjungen auf das Reh zu. Sie stürzten sich auf das Fressen, rissen Fleischbrocken heraus und schlangen sie hinunter.
»Das hättest du sein können«, sagte Thymara zu ihrem Vater. »Die sehen jetzt vielleicht aus wie tollpatschige Babies, aber sie sind dennoch Raubtiere. Und Raubtiere sind genauso gerissen wie wir. Sie können nur besser töten.« Nur zu schnell schwand der Zauber der schlüpfenden Drachen, und Thymaras Faszination verwandelte sich in ein Zwischending aus Furcht und Hass. Diese Kreatur hätte ihren Vater getötet.
»Aber nicht alle«, sagte ihr Vater mit traurigem Tonfall. »Schau mal da hinüber, Thymara, und sage mir, was du dort siehst.«
Von hier oben konnte sie den gesamten Bereich überblicken. Sie schätzte, dass ein Viertel der Hexenholzhüllen keine Drachen mehr hervorbringen würde. Die bereits geschlüpften Drachen schnüffelten an den toten Kokons herum. Thymara sah, wie ein Drache eine der Hüllen anfauchte. Kurz darauf begann diese zu qualmen, und dünne Dampfschwaden stiegen davon auf. Der Rote schlug seine Zähne in einen Kokon und riss einen langen Streifen Hexenholz heraus. Das überraschte Thymara. Denn Hexenholz war hart und feinkörnig. Man baute sogar Schiffe daraus. Jetzt aber schien das Holz in lange fasrige Späne zu zerfallen, die die jungen Drachen gierig herauszerrten und auffraßen. »Die bringen sich gegenseitig um«, sagte sie, weil sie glaubte, dass ihr Vater ihr das hatte zeigen wollen.
»Das bezweifle ich. Ich glaube, dass die Drachen in diesen Hüllen schon gestorben sind, bevor sie sich befreien konnten. Das wissen die anderen Drachen. Wahrscheinlich können sie es riechen. Ich nehme an, dass ihr Speichel etwas enthält, was das Holz bei Berührung aufweicht, sodass sie es fressen können. Vermutlich handelt es sich um denselben Stoff, der die Kokons auch auflöst, wenn die Jungen schlüpfen. Vielleicht ist es aber auch das Sonnenlicht. Allerdings ging es mir um etwas anderes.«
Sie sah noch einmal hinunter. Unruhig streunten junge Drachen über den Lehmboden. Manche waren zum Wasser hinuntergegangen, andere drängten sich um die toten Kokons, rissen sie auseinander und fraßen sie. Von dem Reh, das Tintaglia gebracht hatte, und von dem verstorbenen Jungdrachen war kaum mehr als eine Blutspur auf dem Boden übrig geblieben. Thymara entdeckte einen Drachen mit stummelartigen Vorderläufen, der den blutgetränkten Sand beschnupperte. »Er ist missgestaltet.« Sie sah zu ihrem Vater auf. »Warum sind denn so viele von ihnen verkrüppelt?«
»Vielleicht …«, begann ihr Vater, doch bevor er weitersprechen konnte, ließ sich Rogon von einem höheren Ast zu ihnen herab. Der Mann, mit dem Thymaras Vater zuweilen auf die Jagd ging, blickte finster drein.
»Jerup! Du bist unverletzt! Was hast du dir bloß dabei gedacht? Ich habe dich dort unten rumlaufen sehen, und dann sah ich dieses Ding auf dich zurennen. Von da oben konnte ich nicht erkennen, ob du es heil zum Stamm geschafft hast oder nicht. Was hattest du denn vor da unten?«
Mit einem halbherzigen Lächeln, vielleicht aber auch ein wenig wütend sah ihr Vater hinunter. »Ich dachte, ich könnte dem Jungen helfen, das angegriffen wurde. Ich habe nicht gemerkt, dass es schon tot war.«
Verächtlich schüttelte Rogon den Kopf. »Selbst wenn der Drache nicht tot gewesen wäre, wäre es sinnlos gewesen. Jeder Narr konnte doch sehen, dass er nicht lebensfähig war. Schau sie dir bloß mal an. Die Hälfte von ihnen wird verrecken, ehe die Sonne untergeht, würde ich schätzen. Der junge Elderling meinte wohl, dass so etwas passieren könnte, habe ich gerüchteweise gehört. Gerade war ich drüben bei der Tribüne. Keiner von denen weiß, wie sie reagieren sollen. Selden Vestrit ist ganz offensichtlich am Boden zerstört. Er sieht sich zwar alles mit an, sagt aber kein Wort. Heute wird es keine Musik geben, da wette ich drauf. Die meisten dieser großen Leute, die Schriftrollen mit Ansprachen drauf in den Händen halten, werden wohl keine Rede halten. So viele wichtige Menschen, die so wenig zu sagen haben, hast du noch nie auf einem
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