Rain Wild Chronicles 01 - Drachenhüter
Rüstungen und zersetzte Haut und Knochen.« Nach einer Pause setzte sie hinzu: »Du hast sie, ohne es zu wollen, beleidigt. Ich glaube, du solltest aufs Schiff zurückkehren. Und zwar gleich. Lass mir etwas Zeit, ihr das Missverständnis zu erklären.«
Da meldete sich das Regenwildmädchen wieder zu Wort. Sie hatte eine erstaunlich kräftige und volle Altstimme, und ihr silbriger Blick war beunruhigend und anziehend zugleich. »Himmelspranke meint, dass die Dame aus Bingtown recht hat. Ob Ihr nun erwachsener seid als ich oder nicht, Ihr sollt auf jeden Fall das Drachengelände verlassen. Auf der Stelle.«
Das brachte Sedric noch mehr in Rage. »Ich glaube nicht, dass du das Recht hast, mir zu sagen, was ich zu tun habe!«, erklärte er dem Mädchen.
Doch Alise fuhr ihm ins Wort: »Himmelspranke? Ist das ihr Name?«
»So nenne ich sie jedenfalls«, gab das Mädchen zurück. Anscheinend war es ihr peinlich, dies zuzugeben. »Sie meinte, dass man sich die Kenntnis des wahren Namens eines Drachen erst verdienen muss.«
»Das leuchtet mir vollkommen ein«, erwiderte Alise. »Den wahren Namen eines Drachens zu kennen, ist etwas Besonderes. Niemals verrät ein Drache ihn leichtfertig.« Sie behandelte das Mädchen wie ein liebreizendes Kind, das sich in wichtige Erwachsenengespräche einmischt. Das gefiel dem »Kind« überhaupt nicht, wie Sedric bemerkte.
Alise wandte sich wieder dem riesenhaften Reptil zu. In zwischen hatte es sich ihnen genähert und ragte direkt neben ihnen auf. Die Augen der Drachin glitzerten wie poliertes Kupfer im Sonnenlicht, und ihr Blick war unverwandt auf ihn gerichtet. Alise richtete das Wort an die Kreatur. »O du Große und Gnädige, ich hoffe, eines Tages die Ehre zu haben, deinen wahren Namen zu erfahren. Doch bis dahin lasse ich dich mit Vergnügen meinen wissen. Ich bin Alise Kincarron Finbok.« Und dann vollführte sie tatsächlich einen Knicks vor dem Untier, so tief, dass sie beinahe auf dem harten Lehm aufsetzte.
»Ich habe die lange Reise von Bingtown hierhergemacht, um dich und deinesgleichen zu sehen und mit euch zu sprechen. Ich hoffe, dass wir uns lange unterhalten werden und dass ich viel über euch und euer Wissen lernen werde. Es ist lange her, dass die Menschheit das Privileg eurer Anwesenheit genoss. Das wenige, was wir über euch wussten, haben wir bedauerlicherweise vergessen. Diesen Missstand würde ich gerne beheben.« Sie deutete auf Sedric. »Ihn habe ich mitgebracht, um alles zu notieren und aufzuzeichnen, was ihr mir mitteilen würdet. Es tut mir leid, dass er dich nicht verstehen kann, denn wenn er es könnte, würde er gewiss schnell begreifen, wie klug und weise du bist.«
Wieder knurrte die Drachin, worauf die junge Hüterin Sedric anblickte und sagte: »Himmelspranke meint, selbst wenn Ihr sie vernehmen könntet, wäret Ihr wahrscheinlich nicht in der Lage, ihre Klugheit und Weisheit zu erfassen, weil es Euch selbst an beidem gebricht.«
Diese »Übersetzung« war eindeutig als Beleidigung gedacht. Während die junge Frau sprach, huschte der Blick ihrer silbergrauen Augen immer wieder zu Alise hinüber. Dieser schien die Feindseligkeit des Mädchens gar nicht aufzufallen, oder sie ging darüber hinweg. Sie wandte sich wieder zu Sedric und sagte leise, aber bestimmt: »Wir sehen uns, wenn ich zum Schiff zurückkehre, Sedric. Würdest du mir deinen Schreibkasten dalassen, falls es dir nichts ausmacht? Ich würde versuchen, selbst ein paar Notizen zu machen, während wir uns unterhalten.«
»Natürlich«, gab er zurück und achtete darauf, weder bitter oder verärgert zu klingen. Vor langer Zeit schon hatte er gelernt, höflich zu bleiben, selbst wenn Hest ihn in aller Öffentlichkeit zur Schnecke gemacht hatte. Das war nicht allzu schwer. Man musste nur seinen Stolz ablegen. Allerdings hätte er sich nicht träumen lassen, dass er diese Fähigkeit einmal bei Alise benötigen würde. Energisch drückte er ihr den Schreibkasten in die Hand und freute sich über ihren Schreck, als sie herausfand, wie schwer das gute Stück war. Sollte sie es ruhig selbst durch die Gegend schleppen, dachte er bei sich, und einmal am eigenen Leibe erfahren, welche Arbeit er für sie zu tun bereit war. Vielleicht würde sie ihn dann etwas mehr wertschätzen. Damit wandte er sich von ihr ab.
Aber dann fiel ihm mit Schrecken ein, dass in dem Schreibkasten Dinge waren, die Alise auf gar keinen Fall sehen durfte. Hastig drehte er sich wieder um. »Der ganze Kasten ist viel zu
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