Rain Wild Chronicles 01 - Drachenhüter
fünf Stunden so »strahlend schön« gefunden hätte? Wahrscheinlich nicht. Die Drachin profitierte von Thymaras harter Arbeit, um eine neue Hüterin anzulocken. Bald würde sie aber merken, dass sie eine schlechte Wahl getroffen hatte.
Genau wie Tats.
Der Gedanke überfiel sie aus heiterem Himmel, und Tränen brannten in ihren Augen. Sie verdrängte den Gedanken an Tats und Jerd. Als sich Tats in jener Nacht vom Lagerfeuer entfernt hatte und Jerd ihm gefolgt war, hatte sie der Sache keine Bedeutung geschenkt. Sie war davon ausgegangen, dass zumindest Tats hatte allein sein wollen. Doch als sie später wieder beim Feuer aufgetaucht waren, hatte sie erkannt, dass er alles andere als allein gewesen war. Offenbar hatte er sich von dem verbalen Schlagabtausch mit Greft bestens erholt. Jerd hatte über irgendeine Bemerkung von Tats gelacht. Und dann hatten sie sich Seite an Seite ans Feuer gesetzt. Thymara konnte mithören, wie Jerd ihn über sein bisheriges Leben ausquetschte und ihm all die Fragen stellte, die Thymara sich stets verkniffen hatte – aus Angst, Tats würde sie für aufdringlich halten. Doch Jerd hatte ihn mit schiefem Kopf und einem Lächeln von unten angesehen und ihn all dies ganz offen gefragt. Tats hatte mit seiner tiefen, sanften Stimme geantwortet. Thymara war indessen von Rapskal abgelenkt worden, der sie mit Vermutungen über die Reise, über das morgige Frühstück und über die Möglichkeit, einen Gallator mit nichts anderem als einer Steinschleuder zu töten, beharkte. Greft hatte ihr und Rapskal einen finsteren Blick zugeworfen und war alleine in den Wald davongestapft. Auch Nortel und Boxter lagen sich anscheinend in den Haaren und tauschten Sticheleien aus. Von einem Moment auf den nächsten verfiel Harrikin in dumpfes, mürrisches Schweigen, und Thymara begriff gar nichts mehr. Offenbar waren die gute Stimmung und das freundschaftliche Gefühl vergänglicher als der Rauch des Lagerfeuers.
Und in dieser Nacht hatte Tats seine Schlafdecke neben Jerd ausgebreitet, ohne mit Thymara zu sprechen oder ihr auch nur gute Nacht zu sagen. Sie hatte geglaubt, sie wären Freunde, gute Freunde. Sie hatte sich sogar dem törichten Glauben hingegeben, dass er sich nur deshalb als Drachenhüter hatte anheuern lassen, weil er gewusst hatte, dass auch sie gehen würde. Um die Sache noch schlimmer zu machen, schlug Rapskal sein Lager neben Thymara auf, nachdem sie sich hingelegt hatte. Nun konnte sie schlecht noch einmal aufstehen, um von ihm wegzuziehen, so sehr sie es sich auch wünschte. Seit sie Trehaug verlassen hatten, hatte Rapskal jede Nacht neben ihr geschlafen. Selbst im Schlaf brabbelte und lachte er. Und wenn sie trotz allem einnickte, dann träumte sie unruhig von ihrem Vater, der im Nebel nach ihr suchte.
Vergeblich bemühte sie sich, sich auf die Gegenwart und das Gespräch zwischen der Frau und Himmelspranke zu konzentrieren. Die Frau aus Bingtown sagte: »Erinnerst du dich, o Liebliche, an das Leben deiner unmittelbaren Vorfahren, deiner ruhmreichen Mutter? Weißt du, was geschehen ist, dass die Drachen in der Welt beinahe ausgestorben sind und die Menschen alleine in Trauer zurückgelassen haben?« In Erwartung der Antwort ließ sie die Feder über einem Blatt Papier schweben. Es war widerwärtig.
Und es wurde noch schlimmer, als Himmelspranke sich in der Bewunderung aalte und die Fragen der Frau in Rätseln beantwortete, ohne dabei wirklich etwas zu sagen. »Meine ›Mutter‹? Wäre sie hier, würdest du sie nicht so leichtfertig beleidigen! Drachinnen sind nicht das, was ihr Mütter nennt, du kleiner Milch produzierender Wicht. Wir machen kein Gewese um kreischende Säuglinge oder vergeuden unsere Tage, indem wir hilflose Jungtiere pflegen. Denn wir sind bei unserer Geburt bei Weitem nicht so hilflos und dumm, wie ihr Menschen es seid, die ihr als Säuglinge nicht wisst, wer oder was ihr seid. Ist es nicht eine Ironie, dass ihr ein so kurzes Leben habt und davon so viel Zeit in Unwissenheit verschwendet? Während wir Dutzende eurer Leben auf der Welt sind und uns in jedem Augenblick bewusst sind, was wir sind und wer unsere Vorfahren waren. Wie du siehst, ist es für einen Menschen zwecklos, das Wesen der Drachen verstehen zu wollen.«
Unvermittelt wandte Thymara sich von den beiden ab. »Ich schaue besser mal, ob ich dir etwas Futter erlegen kann«, tat sie kund, ohne sich darum zu scheren, dass sie ein Gespräch unterbrach. Es war ohnehin abstoßend. Die Frau hörte nicht auf,
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